Artikel aus der Science Fiction Encyclopedia
Deutsch von Hannes Riffel
Link zum Original: Ursula K. Le Guin
(1929–2018) US-amerikanische Schriftstellerin, die, in Portland, Oregon lebend, ihren ersten Roman 1966 veröffentlichte; bereits 1970 galt sie als eine der bedeutendsten Stimmen des Genres. In den letzten Jahrzehnten vor ihrem Tod wuchs ihr Ruf weit über die bloße SF-Leserschaft hinaus, und innerhalb des Genres wurde sie mit insgesamt fünf Hugos und sechs Nebulas geehrt; an den Universitäten wird ihr ebenso viel Aufmerksamkeit geschenkt wie Philip K. Dick.
Le Guin war die Tochter von Dr. Alfred Louis Kroeber (1876–1960) und Theodora Kroeber (1897–1979), Ersterer ein berühmter Anthropologe, der zahlreiche Arbeiten über die Ureinwohner Nordamerikas publizierte, Letztere eine Schriftstellerin und Anthropologin, deren Ishi in Two Worlds: A Biography of the Last Wild Indian in North America (1961) am bekanntesten ist. Entsprechend wuchs Le Guin in einem akademischen geprägten Umfeld auf; sie selbst beschäftigte sich an der Universität vor allem mit den französischen Ritterepen des Mittelalters und der Renaissance und machte an der University of Columbia ihren Magister. Sie verfasste Gedichte – die in zahlreichen schmalen Bändchen gesammelt vorliegen, angefangen mit Wild Angels (1975) – und mehrere unveröffentlichte nicht-phantastische Romane, die offenbar alle in dem imaginären zentraleuropäischen Land Orsinia spielen (siehe Ruritania) und schließlich teilweise in Orsinian Tales (1976 <Geschichten aus Orsinien [München: Heyne, 1985], dt. von Biggy Winter>) und Malafrena (1979 <Malafrena [München: Heyne, 1984], dt. von Gisela Stege>) veröffentlicht wurden; The Complete Orsinia (2016) umfasst diese beiden Bände sowie zusätzliches Material. Searoad: The Chronicles of Klatsand (1991 <Die Regenfrau [München: Heyne, 2001], dt. von Hilde Linnert>), das nicht-phantastische Geschichten enthält, die an der Küste Oregons spielen, vermittelt die gleiche kompetente, verhaltene Immanenz.
Ihre frühen veröffentlichten Genre-Erzählungen wurden sämtlich von Cele Goldsmith für die Magazine Amazing Stories und Fantastic gekauft; die erste davon war »April in Paris« (Fantastic [September 1962] <»April in Paris« in: Die zwölf Striche der Windrose [München: Heyne, 1980], dt. von Gisela Stege>). Wie viele ihrer Frühwerke ist diese eher Fantasy denn Science Fiction, wenngleich Le Guin zwischen den beiden Genres keine klaren Grenzen zieht, wie sie in »A Citizen of Mondath« (Foundation [July 1973]) anmerkt, sowie in weiteren Essays in The Language of the Night: Essays on Fantasy and Science Fiction (1979; hrsg. von Susan Wood).
Typischerweise, jedoch nicht immer, stellen Le Guins Erzählungen einen Menschen in eine fremde (oder vielleicht verfremdete) Welt und folgen ihr oder ihm auf einer Queste, bis sie oder er zu höherer Einsicht gelangt (siehe Paradigmenwechsel) und die getrennten Teile miteinander versöhnt; die Quest nimmt oft die Form einer Winterreise an, im Laufe derer unterschiedliche Kulturen in den Blick genommen werden: eine nützliche Gliederung für eine Autorin, die mit der Anthropologie als Alltagsdisziplin aufgewachsen ist. Dieses Muster zeigt sich am deutlichsten in ihrem Frühwerk, insbesondere in den ersten Bänden ihrer Hainish-Serie, die inzwischen auch als League of All Worlds-Serie bezeichnet wird und die in einem gemeinsamen Universum spielen. Die ganze Serie wurde, spätere Fortsetzungen eingeschlossen, in Hainish Novels & Stories (2017; zwei Bände) gesammelt, darunter alle sechs Romane sowie zahlreiche längere und kürzere Erzählungen, die sich über einen Zeitraum von 2500 Jahren zukünftiger Geschichte erstrecken, der seinen Anfang in 300 bis 400 Jahren nimmt. Die der langen Serie zugrunde liegende Prämisse ist ebenso einfach wie elegant und veranschaulicht, wie vertraut Le Guin mit dem Megatext der Science Fiction ist: eine Vorläufer-Spezies der Menschen, die ursprünglich auf dem Planeten Hain beheimatet war, hat die bewohnbaren Welten unseres Teils der Galaxis mit menschlichem Leben bevölkert, was nach Jahrtausenden zu einer großen kulturellen Vielfalt in zahlreichen Sonnensystemen führte.
Die ersten drei Romane sind innerhalb der Serienchronologie spät angesiedelt: Rocannon’s World (Amazing Stories [September 1964] unter dem Titel »The Dowry of Angyar«; erweitert 1966, korrigiert 1977 <Rocannons Welt [München: Heyne, 1978]; dt. von Birgit Reß-Bohusch>), Planet of Exile (1966 <Das zehnte Jahr [München: Heyne, 1981]; dt. von Birgit Reß-Bohusch>) und City of Illusions (1967 <Stadt der Illusionen [München: Heyne, 1979]; dt. von Birgit Reß-Bohusch>), erstmals als Three Hainish Novels (1978 <Hainish [München: Heyne, 1987]; dt. von Birgit Reß-Bohusch>) gesammelt. In Rocannon’s World wird ein Ethnograph auf einem primitiven Planeten von der übrigen Galaxis abgeschnitten und findet sich dort nur unter Schwierigkeiten zurecht; als er sich schließlich ganz dem Planeten hingibt, wird er mit der Fähigkeit der »Mentalsprache« oder Telepathie beschenkt (siehe auch ESP). In Planet of Exile, das über tausend Jahre später spielt, ist die Mentalsprache ganz normal in Gebrauch: Eine terranische Kolonie kämpft auf einem Planeten, dessen Ureinwohner sie verachten, ums Überleben (siehe Kolonisierung anderer Welten); unter Druck gelingt es den beiden Gemeinschaften schließlich, sich zu vereinigen. City of Illusions spielt auf einer unterdrückten zerstörten Erde, die von den äußerlich menschlichen, aber außerirdischen Eroberern der Shing beherrscht wird, die über die bislang unbekannte Fähigkeit des »Gedankenlügens« verfügen. Der amnesische Held erweist sich, nachdem sein Gedächtnis wiederhergestellt ist, als Bote von dem Planeten im Buch davor; da er das »Gedankenlügen« wahrnehmen kann, ist er in der Lage, die bösartigen Shing zu vernichten.
Die generische Struktur dieser Bücher ist vielleicht zu konventionell, um das ganze Gewicht an Bedeutung zu tragen, das ihnen aufgebürdet wird. Obwohl sie eindeutig ihre Abhängigkeit von den Konventionen der Genre-SF erkennen lassen, weisen sie alle die bereits weit entwickelten und für Le Guin typischen Strategien auf, eine Geschichte um wiederkehrende Motive herum zu gestalten, die an Vielfalt und Dichte gewinnen, während die Handlung sie zu neuen Mustern anordnet, bis sich beinahe sagen lässt, dass die Motive die Geschichte sind. Viele davon entsprechen den einfachen archetypischen Symbolen, von denen Mythos wie Dichtung schon immer beherrscht wurden: Dunkelheit und Licht, Wurzel und Zweig, Winter und Sommer, Unterordnung und Hochmut, Sprache und Stille. Le Guin sieht sie jedoch nicht als Gegensätze oder feindlich gesinnte Mächte; vielmehr sind sie einander ergänzende Teile eines ausgewogenen Ganzen, deren Bedeutung sich von dem jeweils anderen ableitet. Le Guins Dualismus entstammt, soweit er denn wirklich vorhanden ist, nicht so sehr der westlichen philosophischen Tradition (wo Fortschritt oft als etwas beschrieben wird, das sich aus der Spannung zwischen Antithesen ableitet, wie in der marxistischen Dialektik), sondern mehr der östlichen daoistischen Tradition, wo die Betonung auf Ausgewogenheit, Gegenseitigkeit (wie beim Yin und Yang) und einem geordneten Ganzen liegt; in Lao Tzu: Tao Te Ching: A Book About the Way and the Power of the Way (1997) hat Le Guin diese Philosophie überzeugend dargelegt. Obwohl die jungianischen Archetypen und die Grundsätze des Daoismus in Le Guins Werk eine zentrale Rolle spielen, haben kritische Kommentare diese beinahe überbetont; denn ihr Schaffen ist viel breiter angelegt.
Das erste wirklich reife Werk Le Guins ist The Left Hand of Darkness (1969 <Die linke Hand der Dunkelheit [Frankfurt am Main: S. Fischer, 2023]; dt. von Karen Nölle>), das sowohl mit dem Hugo als auch mit dem Nebula ausgezeichnet wurde. Die Geschichte wird, in einer Prosa, deren Klarheit und atmosphärische Präzision ins Auge fällt, als Bericht erzählt, den der Botschafter und Ethnologe Genly Ai an seinen Heimatplaneten schickt; dieser Bericht handelt von seinen Erlebnissen auf dem schneebedeckten Planeten Gethen, dessen Bewohner »ambisexuell« sind und für gewöhnlich keine geschlechtsspezifischen Charakteristika aufweisen (auch wenn Le Guins Darstellung heterosexuelles Verhalten nahelegt). Auf dem Höhepunkt von etwas, das als sexueller Zyklus beschrieben werden muss, schlüpft ein Gethener, vornehmlich um sich fortzupflanzen, in einen männlichen oder weiblichen Körper. Obwohl Genly Ai vordergründig ein neutraler Beobachter ist – seine Berichte wahren einen objektiven Tonfall –, kann er zu den Ereignissen nicht auf Distanz bleiben; in der ergreifendsten Episode des Romans, einer langen, einsamen Reise über das Eis, gelangt er zu einem schmerzhaften Einverständnis mit einem gethenischen Protagonisten; beide verlieben sich ineinander. Da die Gethener uns zunächst ähnlich zu sein scheinen (vor allem wenn wir männliche Leser sind), trägt die sich entfaltende Erfahrung ihres Andersseins fruchtbar dazu bei, Aspekte von Sex und Sexismus in unserer Welt ebenso zu enthüllen wie einen generellen kulturellen Chauvinismus (siehe Feminismus; Frauen in der SF). The Left Hand of Darkness mag, was dem Buch nicht abträglich ist, im Rückblick weniger radikal wirken als 1969, vor allem auch weil die Annahme, dass die Science Fiction eine maskuline Domäne war, damals noch nicht ernsthaft infrage gestellt wurde; grenzüberschreitende Werke wie die von Theodore Sturgeon und anderen wurden als Randerscheinungen betrachtet.
Die beiden nächsten wichtigen Werke der Hainish-Serie sind Novellen: »Vaster than Empires and More Slow« (New Dimensions I [1971], hrsg. von Robert Silverberg <»Unermeßlich wie ein Weltreich — langsamer gewachsen« in: Die zwölf Striche der Windrose [München: Heyne, 1980], dt. von Gisela Stege>), dessen Titel »To his Coy Mistress« von Andrew Marvell entnommen ist (ca. 1652 verfasst), spielt unmittelbar nach den Ereignissen in Rocannon’s World; The Word for World Is Forest (1972 in: Again, Dangerous Visions, hrsg. von Harlan Ellison; 1976 <Das Wort für Welt ist Wald in: Grenzwelten [Frankfurt am Main: S. Fischer, 2022], dt. von Karen Nölle>), das 1973 den Hugo gewann, spielt um einiges früher. In beiden Erzählungen werden Menschen auf einem fremden Planeten platziert; der erste Planet ist (siehe Lebende Welten) lediglich von einem empfindungsfähigen Pflanzennetzwerk bewohnt (die der titelgebenden Zeile vorhergehende in dem Gedicht Marvells lautet: »Mein pflanzliche Liebe sollte wachsen«); der zweite Planet ist (siehe Imperialismus) von einer in vieler Hinsicht ausgebeuteten eingeborenen Spezies besiedelt, in einer Situation, die eindeutige Parallelen zum Vietnamkrieg aufweisen soll. In beiden Fällen wird so etwas wie eine Einigkeit erzielt, indem die Menschen sich der Andersartigkeit ergeben, während Enteignung als Gewalt imaginiert wird, als Wahnsinn und gefräßiger Egoismus. Le Guins Erzählungen sind von erstaunlicher Überzeugungskraft und hinsichtlich ihres Weltbilds stimmig, obwohl es der Autorin in ihrer mittleren Schaffensperiode offenbar schwerer wird, Antworten zu finden.
Le Guins nächster großer Roman, der fünfte in der Hainish-Serie, ist The Dispossessed: An Ambigious Utopia (1974 <Freie Geister: Ein zwiespältige Utopie [Frankfurt am Main: S. Fischer, 2017], dt. von Karen Nölle>); er gewann ebenfalls einen Hugo und einen Nebula und wird weithin als ihr gehaltvollstes SF-Werk betrachtet. In diesem Buch werden Schwierigkeiten nicht ohne Mühen überwunden; ein zentrales, strukturgebendes Bild ist eine Mauer, die körperlich wie geistig jegliche Verbindung zwischen den Dualismen unmöglich macht. In chronologisch Hinsicht steht der Roman am Anfang der Hainish-Serie, denn er erzählt das Leben des Physikers, dessen Errungenschaften auf dem Gebiet der Mathematik (durch eine bahnbrechende Erfindung) den Ansible zeitigen, jene verzögerungsfreie Kommunikationsvorrichtung (siehe Schneller als Licht), die notwendig ist, damit es die League of All Worlds – das galaktische Netzwerk, um den sich die ganze Serie dreht – überhaupt geben kann. Zwei bewohnte Welten, die eine ein Mond der anderen, sind von unterschiedlichen politischen Systemen geprägt; auf einer herrscht eine Form der Anarchie (die an jene erinnert, die in der Realität von Peter Kropotkin [1842–1921] beschrieben wurde), die andere ist primär kapitalistisch. Der Held, Shevek, ist in keiner der beiden Gesellschaften wirklich zu Hause. Manche Interpretationen sehen das Buch als Gegenüberstellung einer Utopie und einer Dystopie, aber im Werk von Le Guin gibt es, wie der Untertitel nahelegt, selten solche Unbedingtheiten; die (zumindest anfangs weit attraktivere) anarchistische Gesellschaft ist in mancher Hinsicht engstirnig und emotional reglementiert, wobei die Bevölkerung bereitwillig mittut. Was die Ideenvielfalt betrifft, ist das Buch ausgesprochen stark, erzählerisch allerdings auch ein wenig trocken – was, vielleicht absichtlich, verhindert, dass wir uns auf einfache emotionale Weise mit dem Helden identifizieren –, was wiederum manche Leser:innen in den ersten Jahren nach Erscheinen befremdete. Die Erzählung »The Day Before the Revolution« (Galaxy [August 1974 <»Der Tag vor der Revolution« in: Vor der Revolution (Wittenberge: Carcosa, 2023), dt. von Karen Nölle)>], eine Einführung in die anarchistische Gesellschaft von The Dispossessed, enthält die unromantischen letzten Erinnerungen der erschöpften Begründerin dieser Gesellschaft und gewann ebenfalls einen Nebula. Spätere Geschichten wurden erstmals in Four Ways to Forgiveness (1995) und The Birthday of the World and Other Stories (2002) gesammelt. Im sechsten Hainish-Roman The Telling (2000 <Die Überlieferung in: Grenzwelten [Frankfurt am Main: S. Fischer, 2022], dt. von Karen Nölle>), der mit dem Locus Award ausgezeichnet wurde, entdeckt der Besucher einer Welt der League auf eine ein wenig träge Weise, dass die Realität nicht begriffen werden kann, wenn sie nicht erzählt wird, und dass sich Gegensätze beim Erzählen zu Appositionen auflösen.
Ein interessanter Roman, der nicht der Hainish-Serie angehört, wurde vor The Dispossessed veröffentlicht. The Lathe of Heaven (Amazing [März 1971/Mai 1971]; 1971 <Die Geißel des Himmels [Bellheim: Edition Phantasia, 2006], dt. von Joachim Körber>) begibt sich auf ein imaginäres Territorium, das allgemein mit Philip K. Dick assoziiert wird, und erzählt von einem Mann, der mittels seiner Träume alternative Realitäten erschaffen kann [siehe Erhörte Gebete in der Encyclopedia of Fantasy]. Hinsichtlich seines Interesses an der Metaphysik entspricht er durchaus ihren übrigen Werken, einschließlich jenen, die der Fantasy zugerechnet werden (siehe unten). In den USA wurde eine intelligente Fernsehverfilmung gedreht. Eine zweite Fernsehverfilmung unter der Regie von Philip Haas wurde 2002 ausgestrahlt. Die übereinstimmende Meinung lautet, dass die Neuverfilmung schlechter ist als die ursprüngliche, die so denkwürdig war, dass die Version von 2002 zu einer sinnlosen Tautologie geriet. In diesem Zeitraum veröffentlichte Le Guin weitere Werke, die nicht der Hainish-Serie angehören, darunter das mit dem Hugo Award ausgezeichnete »The Ones Who Walk Away from Omelas« (New Dimensions III [1973], hrsg. von Robert Silverberg <»Den Omelas den Rücken kehren« in: Die zwölf Striche der Windrose [München: Heyne, 1980], dt. von Gisela Stege>), eine bittere, gekonnte SF/Fantasy/Märchen-Parabel über den Preis des guten Lebens, die in einem maßvoll paradiesischen Städtchen spielt, das Salem, Oregon recht ähnlich ist und wo das Glück aller von dem unaufhörlichen Elend eines kleines Kindes abhängt; und »Neun Leben« (Playboy [November 1969] <»Neun Leben« in: Die zwölf Striche der Windrose [München: Heyne, 1980], dt. von Gisela Stege>), eine bewegende Geschichte über Klone, die auf einem außerirdischen Planeten Bergbau betreiben. Mit Ausnahme von The Word for World Is Forest sind die besten der frühen Erzählungen von Le Guin in The Wind’s Twelve Quarters (1975 <Die zwölf Striche der Windrose [München: Heyne, 1980], dt. von Gisela Stege>) enthalten, ihrer ersten und besten Geschichtensammlung.
Einige Jahre lang schrieb Le Guin nur wenige kürzere Erzählungen; eine der bemerkenswertesten, »The New Atlantis« (in The New Atlantis [1975], hrsg. von Robert Silverberg <»Das neue Atlantis« in: Die Kompaßrose [München: Heyne, 1985], dt. von Hilde Linnert>), ist ein düstere Geschichte aus der nahen Zukunft, in der eine zerstörte Umwelt (zusammen mit einem verängstigten und beängstigenden Staatsapparat) Amerika in Finsternis versinken lässt (siehe Klimawandel), während sich zur selben Zeit die weißen Türme von Atlantis aus dem Meer erheben; sie endet – wie vieles in Le Guins späteren Werken – mit weitblickender Zwiespältigkeit, dem Schrei eines Atlantiden: »Wir sind hier? Wohin seid ihr gegangen?« Dies ist eine der Erzählungen in Le Guins zweiter Geschichtensammlung The Compass Rose (1982 <Die Kompaßrose [München: Heyne, 1985], dt. von Hilde Linnert>), ein bisweilen verschmitztes Buch, das zwar einen Ditmar Award gewann, aber sehr uneinheitlich rezensiert wurde, ebenso wie die Novelle »The Eye of the Heron« (in Millenial Women [1978], hrsg. von Virginia Kidd), eine übertrieben diagrammatische politische Fabel, deren durchsichtige Schlichtheit manchen fast als Selbstparodie erscheint. Buffalo Gals and Other Animal Presences (1987) enthält Erzählungen und Gedichte über Tiere, von denen viele bereits in früheren Erzählungsbänden gesammelt vorlagen, aber auch die erste Buchveröffentlichung von »Buffalo Gals, Won’t You Come Out Tonight?« (Fantasy & SF [November 1987] <»He, Büffelmädchen, kommt ihr nicht raus heut nacht« in: Heyne SF-Jahresband 1990 [München: Heyne, 1990], dt. von Hilde Linnert>); diese mit dem Hugo ausgezeichnete Geschichte erzählt davon, wie ein Menschenmädchen den Inkarnationen der Totemtiere der nordamerikanischen Ureinwohner begegnet (darunter auch der Kojotin). Einen weiteren Nebula für die beste Erzählung gewann Le Guin mit »Solitude« (Fantasy & SF [Dezember 1994]). Von Beginn der 1990er an verfasste sie wieder mehr kürzere Werke; zu den Titeln, die keinen Serien zugehören, zählt A Fisherman of the Inland Sea (1994 <Ein Fischer des Binnenmeers [Bellheim: Edition Phantasia, 1998], dt. von Joachim Körber u.a.>), das sich nicht leicht einem bestimmten Genre zuordnen lässt, sondern vielmehr Le Guins zunehmende Beschäftigung mit Geschichten widerspiegelt, die das ganze Terrain der Phantastik erkunden. Unlocking the Air (1996) sammelt vor allem nicht-phantastische Arbeiten; der vorzügliche Sammelband Changing Planes (2003) umfasst eine Folge von Erzählungen, die auf einem Archipel von Parallelwelten spielen, welche (wie der Titel – wörtlich: Umsteigen – andeutet) nur über die Wartesäle von Flughäfen zu erreichen sind; jede Gesellschaft nimmt, in der Tradition der phantastischen Reisen, die Gestalt einer Utopie, einer Dystopie oder eines Wunderlands an.
In den längeren fiktionalen Werken Le Guins nach The Dispossessed (darunter auch der Orsinien-Zyklus) zeigte sich, dass ihre starke Neigung zum Utopischen die Führung übernahm. Für die Science Fiction der Nachkriegszeit ist das ungewöhnlich, in und außerhalb der Genregrenzen. Da Utopien meist nicht handlungsgetrieben sind, wirken viele ihrer Texte aus dieser Zeit – bevor sie sich in den 1990er Jahren offensichtlich wieder mehr für das Geschichtenerzählen interessierte – ein wenig statisch; sie fordern bewusst eine kontemplativere Form von Aufmerksamkeit als das Gros der Science Fiction sonst. Das ist ein schwieriger, idealistischer Anspruch, denn er verlangt von den Leser:innen, dass sie sich auf eine Leseerfahrung einlassen, die lehrhaft ist und dies auch sein soll. Das anschaulichste Beispiel dafür ist Always Coming Home (1985 <Immer nach Hause [Wittenberge: Carcosa, 2023], dt. von Matthias Fersterer, Karen Nölle & Helmut W. Pesch>). Dabei handelt es sich um ein Experiment: eine Collage aus Versen, Berichten, Geschichten, Zeichnungen von Margaret Chodos, eine dazugehörige Kassette mit SF-Musik von Todd Barton und sogar Rezepte, die alle der matriarchalen Gesellschaft der Kesh entstammen, welche im Napa Valley eines zukünftigen Kalifornien leben, und zwar lange nachdem katastrophische Ereignisse die Küstenstädte haben untergehen lassen, wodurch eine recht lebenswerte zerstörte Erde entstanden ist. Eine zwiefach vorhandene Erzählung berichtet von einer Frau, die in eine maskuline, aggressive Gesellschaft hineinheiratet und wieder daraus flieht. Le Guin nähert sich der Utopie hier auf dem Weg fiktionaler Anthropologie, die sich auf ihre Gesellschaft konzentriert, indem sie nicht die für die SF typische Frage stellt: »Wie sind wir so geworden?«, sondern einfach wissen will: »Was ist das?«
Le Guins Fantasy-Erzählungen, die parallel zu ihren berühmtesten SF-Texten verfasst wurden, sind vielleicht ihre persönlichsten Werke und haben manchen ihrer Leser:innen mehr Freude bereitet als alles andere, das sie geschrieben hat. Die ursprüngliche Erdsee-Trilogie ist nüchtern, aber anschaulich erzählt, ein Hauptwerk, dessen Anziehungskraft weit über die Jugendbuchleserschaft hinausgeht, für die es anfangs gedacht war: A Wizard of Earthsea (1968 <Ein Magier von Erdsee in: Erdsee. Die illustrierte Gesamtausgabe [Frankfurt am Main: S. Fischer, 2018]>, dt. von Karen Nölle>), The Tombs of Atuan (1971 <Die Gräber von Atuan in: Erdsee. Die illustrierte Gesamtausgabe [Frankfurt am Main: S. Fischer, 2018]>, dt. von Karen Nölle>) und The Farthest Shore (1972 <Das fernste Ufer in: Erdsee. Die illustrierte Gesamtausgabe [Frankfurt am Main: S. Fischer, 2018]>, dt. von Karen Nölle>), gesammelt als Earthsea (1977 <Erdsee. Die erste Trilogie [Frankfurt am Main: S. Fischer, 2000], dt. von Karen Nölle>). Die Trilogie spielt auf den Inseln eines weltumspannenden Archipels und erzählt von einer Magierausbildung, deren Prinzipien so rigoros sind, dass sie sich leicht als Form alternativer Wissenschaft verstehen lassen. Das Buch berichtet aus dem Leben eines Magiers namens Ged, von seinen Lehrjahren, seinem machtvollen Erwachsenendasein und zuletzt von seiner Todesqueste als Zauberer. Die ganze Trilogie ist von einer düsteren Fröhlichkeit erfüllt, die vielleicht ausgereifter und durchdachter (und trotzdem spannungsvoll) ist als die vergleichbare Narnia-Serie von C. S. Lewis. Im darauffolgenden Jahrzehnt wurde Le Guin jedoch vonseiten der Frauenbewegung kritisiert. Ihr wurde vorgeworfen, dass sie, vor allem in dieser Trilogie, Männer als Handelnde und Macher sah (Zauberer sind männlich), während Frauen die ruhende Mitte bilden, den Brunnen, aus dem diese Männer trinken. Le Guins Feminismus veränderte sich (wie Always Coming Home zeigt) im Laufe der nächsten beiden Jahrzehnte grundlegend, und sie ging auf diesen Vorwurf ein, indem sie einen vierten Roman innerhalb der Erdsee-Serie schrieb: Tehanu. The Last Book of Earthsea (1990 <Tehanu in: Erdsee. Die illustrierte Gesamtausgabe [Frankfurt am Main: S. Fischer, 2018]>, dt. von Hans-Ulrich Möhring>) ist ein trauriges, kraftvolles, ruhiges Buch über die Stärke der Frauen (und die letztendliche Machtlosigkeit Geds) und wurde mit dem Nebula ausgezeichnet. »Earthsea Revisioned« (1993 <»Erdsee mit neuen Augen« in: Erdsee. Die illustrierte Gesamtausgabe [Frankfurt am Main: S. Fischer, 2018]>, dt. von Karen Nölle>, ein Vortrag, der 1992 unter dem Titel »Children, Men and Dragons« gehalten wurde) beschäftigt sich mit einigen Themen, die in diesem Roman – und der ganzen Serie – behandelt werden. Tales from Earthsea (2001 <Geschichten von Erdsee in: Erdsee. Die illustrierte Gesamtausgabe [Frankfurt am Main: S. Fischer, 2018]>, dt. von Sara Riffel) und The Other Wind (2001 <Der andere Wind in: Erdsee. Die illustrierte Gesamtausgabe [Frankfurt am Main: S. Fischer, 2018]>, dt. von Hans-Ulrich Möhring>) erzählen beide, wie ein im Gleichgewicht befindliches Universum bedroht und erhalten wird. Besonders scharfzüngig schildert der Roman – wenn auch auf eine unterschwellige Weise, die leicht zu übersehen ist –, wie Religionen versuchen, dieses Gleichgewicht zu stören, indem sie die Unsterblichkeit verfechten: In Erdsee gibt es keinen Himmel, und die gläubigen Toten gefährden die Mechanismen der Realität, indem sie die Vorhölle verstopfen, und sie müssen befreit werden, um richtig zu sterben. Ein durchaus interessantes Rollenspiel, das auf Erdsee basiert, trägt den Titel Archipelago (2007).
Die Werke, die Le Guin neben ihren Hauptserien und neben einzelnen Erzählungen verfasst hat, blieben vielfältig. The Beginning Place (1980, auch 1980 unter dem Titel Threshold) ist ein ergreifender Fantasy-Roman für jüngere Leser:innen und handelt von einer Alternativwelt, die nur bedingt wünschenswert ist; Annals of the Western Shore, bestehend aus Gifts (2004 <Die wilde Gabe [München, Piper, 2006], dt. von Florian F. Marzin>), Voices (2006) und Powers (2007, mit einem Nebula ausgezeichnet), ist eine Fantasy-Serie für jüngere Leser:innen (gesammelt als The Annals of the Western Shore [2020]). Lavinia (2008) schildert das Leben von Aeneas’ Ehefrau; Vergil, der Lavinia als Gespenst erscheint, erwähnt sie kaum, aber sie ist die einzige Figur in seiner Geschichte, die sich ihrer Fiktionalität bewusst ist. Das Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschaffener prägt auch den beinahe gleichzeitig erschienenen Roman Jocasta: Wife and Mother (2005) von Brian W. Aldiss. Le Guin hat vier Anthologien herausgegeben: Nebula Award Stories 11 (1976), Interfaces (1980, zusammen mit Virginia Kidd <Grenzflächen [München: Heyne, 1985], dt. von Birgit Reß-Bohusch>), Edges (1980, zusammen mit Virginia Kidd <Kanten [München: Heyne, 1983], dt. von Hannelore Hoffmann & Abel Miser>) und The Norton Book of Science Fiction (1993, zusammen mit Brian Attebery sowie Karen Joy Fowler) – Letztere darunter bei Weitem am einflussreichsten. Spätere nichtfiktionale Texte, in erster Linie literarische Essays und Rezensionen, wurden gesammelt in Dancing at the Edge of the World: Thoughts on Words, Women, Places (1989), Cheek by Jowl (2009) und anderorts. 1989 wurde Le Guin mit einem Pigrim Award für ihre SF-Kritiken ausgezeichnet.
Die klare, gelassene Anschaulichkeit ihrer Erzählweise ist in der Fantasy, in der SF wie in ihren scheinbar historischen Orsinien-Geschichten, von großer Kraft und hat ihr viele treue Freund:innen gewonnen, sogar innerhalb der Genreleserschaft, die einige Zeit glaubte, von ihr im Stich gelassen worden zu sein, zumindest bis der provinzielle Charakter dieser Hypothese überdeutlich sichtbar wurde. Es ist bezeichnend, dass ihre Werke bis zum Ende der 1980er Jahre mit Hugos und Nebulas ausgezeichnet wurden. Möglicherweise besaß Le Guin die Eigenschaft, auch für die Welt außerhalb der Genres – und dort vor allem von Akademikern – als akzeptabel zu gelten, doch sie widersetzte sich diesem zweifelhaften Kompliment mit beißendem Spott und zeigte nicht zuletzt (am Beispiel ihrer eigenen Werke), dass das Interesse traditioneller Romanautor:innen an Fragen der Charakterzeichnung und der Moral dem Genre nicht fremd sein muss. John Clute hat einmal über sie geschrieben, sie sei »überaus gescheit, menschenfreundlich, besorgt«, und beklagte des weiteren »einen verhängnisvollen Mangel an Wagnis«. Das mag eine Übertreibung sein, und der Autor würde diese Äußerung heute nicht mehr auf Ihr Werk als Ganzes beziehen; er trifft damit allerdings eine Eigenschaft dieses Werkes, die auch von anderen Kritikern kommentiert wurde: das Gefühl, sie habe innerhalb des Genres die Rolle der weisen Stimme übernommen. Es ist wahr, dass einige von Le Guins zivilisierten Gewissheiten sich mehr dem Zufälligen und Unvorhersagbaren öffnen könnten. Ebendiese Gewissheiten wurden jedoch später stets einer genauen Prüfung unterzogen, am schärfsten vielleicht in den verschiedenen Essays, die in Buchform vorliegen in Words Are My Matter: Writing About Life and books 2000–2016 (2016, im Folgejahr mit dem Hugo ausgezeichnet), No Time to Spare: Thinking About What Matters (2017, ebenfalls mit einem Hugo ausgezeichnet <Keine Zeit verlieren: Über Alter, Kunst, Kultur und Katzen [München: Golkonda, 2018], dt. von Anne-Marie Wachs>) und Dreams Must Explain Themselves and Other Essays 1973–2004 (2018), das bereits gesammelte sowie verstreute Texte enthält, auch mehrere, die über das im Titel genannte Jahr 2004 hinausgehen, darunter ihre meisterhaft Rede anlässlich der Verleihung der National Book Award Medal for Distinguished Contribution to American Letters, die sie 2014 gehalten hat. Die Spuren ihres Denkens und ihr zunehmend überzeugendes Neudenken herkömmlicher Wahrheiten kann als bedeutende intellektuelle Odyssee betrachtet werden, die erst mit ihrem Tod in den Hafen eingelaufen ist. Im Laufe der vielen Jahrzehnte dieser Reise, die sich fast zwanzig Jahre weit ins neue Jahrhundert erstreckte, erwies sich Le Guin mehr und mehr zu Recht als Vertreterin der Rolle, die ihr schon sehr früh in ihrer Karriere zugewiesen wurde: die Rolle der weisen Stimme.
1995 erhielt Le Guin für ihr Lebenswerk den World Fantasy Award, sie wurde 2011 in die Science Fiction Hall of Fame aufgenommen, erhielt 2002 den SFWA Grand Master Award und 2012 einen Easton Award. 2019 gewann sie zweimal den Locus Award, und zwar in der Kategorie »Bestes Sachbuch« für Ursula K. Le Guin: Conversations on Writing (2018, zusammen mit David Naimon), sowie in der Kategorie »Bestes Kunstbuch« für The Books of Earthsea. The Complete Illustrated Edition (2018, zusammen mit Charles Vess <Erdsee. Die illustrierte Gesamtausgabe [Frankfurt am Mein: S. Fischer, 2018], dt. von Hans-Ulrich Möhring, Karen Nölle & Sara Riffel>).
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Mit freundlicher Genehmigung von
John Clute & David Langford
© der Übersetzung 2023 by Hannes Riffel
Redaktion: Karen Nölle