Le Guin auf Deutsch

Was soll ich von Ursula K. Le Guin lesen? Diese Frage stel­len sich so manche, die zum ersten Mal oder nach län­ge­rer Zeit wieder auf diese wun­der­bare Autorin stoßen. Hannes Riffel, der in den letz­ten Jahren erst im S. Fischer Verlag und seit 2023 bei Carcosa nach und nach meh­rere Neuübersetzungen von Werken Ursula K. Le Guins betreut hat und betreut, gibt dazu ein paar Hinweise.

Meine erste Begegnung mit Ursula K. Le Guin war, und damit stehe ich bestimmt nicht alleine, die Lektüre von The Dispossessed, im Original erst­mals 1974 erschie­nen. Sowohl die gelun­gene Personenzeichnung als auch die uner­schrockene Schilderung der poli­ti­schen Verhältnisse hat mich damals sehr beein­druckt, und seit­her ist der Roman für mich so etwas wie ein Gradmesser für pro­gres­sive Science Fiction — so lesbar und herz­er­grei­fend kann eine Auseinandersetzung mit gesell­schaft­li­chen Verhältnissen sein.

Die erste deut­sche Übersetzung von Gisela Stege, 1976 unter dem gewollt markt­kon­for­men, aber doch reich­lich unschö­nen Titel Planet der Habenichtse bei Heyne erschie­nen, ist für dama­lige Verhältnisse durch­aus ehren­wert und lesbar, wenn­gleich sie sich einige Freiheiten nimmt und im Detail allzu wort­reich ist (diese Übersetzung ist 1987 sogar in der DDR erschie­nen). 1999 folgte eine Überarbeitung dieser Übersetzung (durch Hiltrud Bontrup) im Hamburger Argument Verlag, die vieles besser macht, aber auch zahl­rei­che neue Fehler ent­hält. Auf deren Grundlage erschien dann 2006 eine Neuübersetzung von Joachim Körber in dessen Edition Phantasia, wieder ein Schritt in die rich­tige Richtung, aber leider unter dem Titel Die Enteigneten, der eben­falls wieder völlig an der Sache vor­bei­geht — nir­gendwo in dem ganzen Buch gibt es irgend­wel­che Habenichtse oder Enteigenete.

2017 hatte ich dann das Glück, bei S. Fischer eine Neuübersetzung her­aus­ge­ben zu dürfen, die aus der Feder von Karen Nölle stammt und die Ursula K. Le Guin erst­mals auf einem über­set­ze­ri­schen Niveau zugäng­lich macht, das ihr gerecht wird. Hier ist kein Wort zu viel, hier wird mit einer sti­li­sti­schen Eleganz und inhalt­li­chen Treffsicherheit for­mu­liert, die bei­spiel­ge­bend ist.

Den neuen dt. Titel, Freie Geister, trug ich damals schon eine Weile mit mir herum. Der Originaltitel The Dispossessed bezieht sich auf den engl. Titel von Dostojewskijs Dämonen: The Possessed — die »Besessenen«. Da es die »Entbesessenen« auf Deutsch nicht gibt, nahm ich erfreut zur Kenntnis, dass die viel­ge­lobte Neuübersetzung der Dämonen von Swetlana Geier den Titel Böse Geister trägt — und schon hatte ich mit Freie Geister genau den Titel, der das umschreibt, worum es in diesem Buch geht.

Und Freie Geister ist erst der Auftakt zu einer regel­rech­ten Le Guin-Rennaissance: Als Nächstes nahm sich Karen Nölle des Romans The Left Hand of Darkness an, im Original 1969 erschie­nen, bei Heyne ursprüng­lich unter dem Titel Winterplanet, später dann ange­mes­sen als Die linke Hand der Dunkelheit. Auch mit diesem Werk betrat Le Guin Neuland: Ihre Schilderung einer Zivilisation, in der das indi­vi­uelle Geschlecht wan­del­bar ist, geht zwar noch nicht so weit wie manche SF-Werke heute, aber sie hat den Weg gewie­sen und erzäh­le­ri­sche Standards gesetzt, die bis heute nicht viele Autor:innen errei­chen.

Als Abschluss einer Trilogie mit Romanen aus dem soge­nann­ten Hainish-Universum Le Guins folgte 2022 der Sammelband Grenzwelten, in dem die beiden Romane The Word for World is Forest (1972) und The Telling (2000) ent­hal­ten sind. Ersterer ist der sel­tene Fall, dass der dt. Titel den des Originals noch an Schönheit über­trifft: Das Wort für Welt ist Wald, eine Streitschrift für öko­lo­gi­sches Denken und eine Abrechnung mit u.a. dem Vietnamkrieg. Letzteren konnte Karen Nölle mit dem pas­sen­den Titel Die Überlieferung ver­se­hen, denn darum geht es vor allem — um die Bedeutung unse­res kul­tu­rel­len Gedächtnisses für Gegenwart und Zukunft.

Von hier führt dann ein direk­ter Pfad zu dem ersten bei Carcosa erschie­nen Buch von Ursula K. Le Guin: Always Coming Home (1985), ihr umfang­reich­stes Werk und von ihr (und vielen begei­ster­ten Leser:innen) als ihr bedeut­sam­stes betrach­tet. Matthias Fersterer, Karen Nölle und Helmut W. Pesch haben die weit über tau­send Manuskriptseiten ebenso akri­bisch wie lie­be­voll ins Deutsche über­tra­gen und uns damit, unter dem Titel Immer nach Hause, unse­ren ersten Verkaufserfolg beschert. Dabei han­delt es sich um eine detail­lierte Archäologie der Zukunft in Form von Romankapiteln, Erzählungen, Schauspielen, Gedichten, Essays und vielen ande­ren Abschweifungen, ein­schließ­lich eines »Making of«, der Aufzeichnung eines Podiumsgespräches über die Entstehung des Buches.

Dabei wird es aber nicht blei­ben: Im Herbst 2024 erscheint bei Carcosa Ursula K. Le Guins Roman The Lathe of Heaven (1971), und zwar in der erst­mals 2006 publi­zier­ten voll­stän­di­gen dt. Fassung von Joachim Körber, die für unsere Neuausgabe in Zusammenarbeit mit dem Übersetzer grund­le­gend über­ar­bei­tet wurde. Die Geißel der Himmels ist ein auch heute noch bri­san­ter SF-Thriller über Krieg und Manipulation, eine sti­li­stisch bril­lante Hommage an Philip K. Dick und ein stau­nens­wer­ter Beweis dafür, wie früh Le Guin sich schon mit den Besten ihres Genres zu messen wusste.

Außerdem haben wir die dt. Rechte an Le Guins historisch-phantastischem Juwel Lavina (2008) erwor­ben, das bei Carcosa im Herbst 2025 zum ersten Mal auf Deutsch erschei­nen wird. Matthias Fersterer sitzt bereits an der Übersetzung und beschäf­tigt sich flei­ßig mit römi­scher Geschichte im Allgemeinen und mit dem Schriftsteller Vergil im Besonderen, denn die titel­ge­bende Hauptfigur ist Vergils Hauptwerk Aeneis ent­nom­men und erhält hier zum ersten Mal eine Stimme.

Aber zurück zu bereits erschie­ne­nen Neuübersetzung: Keine Empfehlungsliste Le Guin’scher Bücher wäre voll­stän­dig, ohne ihren Erdsee-Zyklus zu erwäh­nen. Dieser besteht aus ins­ge­samt sechs Bänden, wobei sich die erste Trilogie noch an eine jugend­li­che Zielgruppe wendet und die zweite Trilogie inhalt­lich wie for­mell dar­über weit hin­aus­wächst. Von Anfang an stellt Le Guin über­kom­me­nen Vorstellungen von Fantasygeschichten und ‑helden ihre eigene erschüt­ternde und erschüt­ternd dif­fe­ren­zierte Version ent­ge­gen — ein Klassiker auf Augenhöhe mit nicht nur dem Herrn der Ringe.

Erhältlich sind diese sechs Bände in einer auf­wän­di­gen Gesamtausgabe mit preis­ge­krön­ten Illustrationen von Charles Vess, der noch mit der Autorin zusam­men­ar­bei­ten konnte; außer­dem in zwei hand­li­chen, preis­gün­sti­gen Paperbacks — alles durch­ge­hend neu über­setzt von Karen Nölle (in Zusammenarbeit mit Hans-Ulrich Möhring und Sara Riffel). Wer allein schon die Landkarte dieser Inselwelt auf dem Vorsatz betrach­tet, wird ermes­sen können, mit wie viel Geduld und Begeisterung dieses Meisterwerk in die dt. Sprache gebracht wurde.

Und damit ist unsere Reise noch nicht zu Ende! Ich ver­spre­che Euch, dass ich hier in den näch­sten Jahren noch auf einige Neuentdeckungen und Neuübersetzungen hin­wei­sen werde. Denn Ursula K. Le Guin war der eigent­li­che Anlass für die Gründung des Carcosa Verlages, und ihr werden wir die Treue halten …