Gene Wolfe

Artikel aus der Science Fiction Encyclopedia
Deutsch von Hannes Riffel
Link zum Original: Gene Wolfe

(1931–2019) US-amerikanischer Schriftsteller, gebo­ren in New York, auf­ge­wach­sen in Texas, lange Zeit ansäs­sig in Illinois. Er diente in Korea und machte dort Erfahrungen, die über Jahrzehnte hinweg seine Schilderungen von Kriegen maß­geb­lich geprägt haben; vieles davon findet sich in der Korrespondenz mit seiner Mutter aus den Jahren 1952 bis 1954 wieder, die in Letters Home (1991) gesam­melt vor­liegt. Er machte einen Abschluss als Maschinenbauingenieur an der University of Houston und arbei­tete in diesem Fach, bis er 1972 Herausgeber der Fachzeitschrift Plant Engineering wurde. Nachdem er 1984 aus dieser Position aus­schied, schrieb er haupt­be­ruf­lich. Obwohl er bei der Leserschaft weder zur Spitze in Sachen Beliebtheit zählte noch zu jenen, die in der lite­ra­ri­schen Szene über großen Einfluss ver­füg­ten, ist Wolfe sehr wahr­schein­lich bis heute der bedeu­tend­ste Schriftsteller, den die SF her­vor­ge­bracht hat, und zwar sowohl hin­sicht­lich des schrift­stel­le­ri­schen Niveaus als auch auf­grund der Anzahl hoch­ka­rä­ti­ger Werke, die er ab 1965 her­vor­ge­bracht hat. Von diesem Zeitpunkt an hat Wolfe bis etwa 2010 Texte geschrie­ben, die auf bei­spiel­hafte Weise Modernismus und Genre-SF in sich ver­ei­nig­ten. Letztlich ist er für die Weltliteratur und die Phantastik glei­cher­ma­ßen von so großer Bedeutung, weil es ihm gelang, diese vor­geb­li­chen Gegensätze lite­ra­risch auf­zu­lö­sen.

Wolfes Werk erweist sich als modern im eigent­li­chen Sinne dieses Begriffs: Es ist gleich­zei­tig sowohl gegen­wär­tig als auch welt­ab­ge­wandt; und obwohl es die Welt als etwas dar­stellt, das furcht­bar schwer in Worte zu fassen ist, hält Wolfe doch an einer ele­men­tar moder­nen Prämisse fest, näm­lich der, dass es eine dar­stell­bare Welt gibt, wie schwie­rig sie auch zu beschrei­ben sein mag. Diese Überzeugung dient ihm als plau­si­ble Erklärung dafür, seinen düste­ren Katholizismus krea­tiv zu ent­fal­ten. Das Gleichgewicht zum Megatext der SF wird nie­mals gestört; jedes Wort ist geprägt von einer Ehrfurcht gegen­über dem, was inner­halb des Rahmens der Phantastik for­mu­liert werden kann. Das Ergebnis besteht in einer bedrücken­den »Stille«, näm­lich einem tiefen aukt­oria­les Schweigen dar­über, was eine Erzählung viel­leicht bedeu­ten mag. Nur die Geschichte selbst spricht; Wolfe spricht nie.

Bedauerlicherweise wirkt sein Werk auf­grund der anspruchs­vol­len Haltung, die den inter­pre­ta­ti­ven Zugang bis­wei­len ein­schränkt, für die gegen­wär­tige und stark ver­ein­fa­chende aka­de­mi­sche Diskurskritik bei­nahe völlig unver­ständ­lich. Da deren Vormachtstellung all­mäh­lich schwin­det, erscheint es denk­bar, dass ein jün­ge­res Publikum einen eige­nen Zugang findet. Andererseits hat Wolfes aus­gie­bi­ger Gebrauch von Tropen und Topi der Genre-SF zwangs­läu­fig dazu geführt, dass jeg­li­che Resonanz, die sein Werk inner­halb der mit SF unver­trau­ten Kritik hatte, äußerst dürf­tig war. Speziell für femi­ni­sti­sche Ansätze ist bei ihm nicht viel Raum vor­han­den.

Welchen lite­ra­ri­schen Einflüssen Wolfe unter­lag, ist nur bedingt nach­voll­zieh­bar. Wenn er sich mit dem Werk von Robert A. Heinlein beschäf­tigt, scheint dies mehr Hommage zu sein als Kritik, zumal Wolfe mit Jorge Luis Borges (zwei­fel­los ein Einfluss) eine Vorliebe für Autoren wie G. K. Chesterton und Rudyard Kipling teilt. Diese drei Autoren aus­ge­nom­men, stam­men seine Anleihen weit­ge­hend aus der US-amerikanischen Science Fiction. Hier ist spe­zi­ell der Einfluss von Jack Vance fest­zu­stel­len, dessen Kurzgeschichtensammlung The Dying Earth (1959 <Die ster­bende Erde [München: Heyne, 1978]>, dt. von Lore Strassl) offen­sicht­lich dazu bei­getra­gen hat, den Hintergrund von Wolfes Meisterwerk The Book of the News Sun aus­zu­ge­stal­ten. Dabei werden einige der bis­wei­len ent­le­ge­nen Themen der »Scientific Romance« eben­falls berück­sich­tigt; aber Wolfes rück­be­züg­li­che Komplexität ist weit ent­fernt von dem zap­pe­li­gen Unbehagen mit dem Erzählbaren, das für die »Scientific Romance« typisch ist. Als Ausnahme kann H. G. Wells gelten, dessen Neigung zu reduk­ti­ver Klarheit die Kehrseite von Wolfes düste­ren Zweifeln an der Wirksamkeit von »Erklärungen« mar­kiert. Eine Erzählung von Wolfe weiß immer mehr, als sie verrät, und erschließt sich so gut wie nie bei der ersten Lektüre. Ursula K. Le Guins oft zitier­tes Lob – »Wolfe ist unser Melville« – lässt sich als Hinweis darauf ver­ste­hen, dass beide Autoren eine enorme Wissensbegierde und Auffassungsgabe gemein­sam haben, wofür Wolfes The Book of the News Sun und Herman Melvilles Moby Dick (1851) die wohl besten Beispiele sind. Darüber hinaus sei fest­ge­stellt, dass bis­lang ver­mut­lich kein ande­rer US-amerikanischer Autor den aukt­oria­len Kunstgriff, der den Kern von Melvilles spätem Meisterwerk The Confidence Man: His Masquerade (1857) aus­macht, auf einem sol­chen Niveau erfasst hat wie Wolfe in der Darstellung seiner Hauptfiguren. Woraus sich durch­aus ablei­ten lässt, dass Wolfe Melville fort­führt.

Wolfe hat früh ange­fan­gen zu schrei­ben, aber seine erste ver­öf­fent­lichte Geschichte, »The Case of the Vanishing Ghost« (The Commentator [November 1951]), erzielte keinen Durchbruch beim Publikum. Der sollte sich erst mit »The Dead Man« (Sir! [Oktober 1965]) ein­stel­len, nach­dem er zuvor jah­re­lang bemer­kens­werte Erzählungen ver­fasst hatte; diese Texte liegen gesam­melt in Young Wolfe: A Collection of Early Stories (2002) vor. In den Folgejahren erschie­nen Wolfes besten Werke meist in der von Damon Knight her­aus­ge­ge­be­nen Reihe Orbit, von »Trip, Trap« (Orbit 2 [1967]) bis zu der vor­züg­li­chen kafkaesken Allegorie »Forlesen« (Orbit 14 [1974]).

»The Island of Doctor Death and Other Stories« (Orbit 7 [1970]) wurde zusam­men mit »The Death of Doctor Island« (Universe 3 [1973], hrsg. von Terry Carr), »The Doctor of Death Island (Immortal [1978], hrsg. von Jack Dann) und »Death of the Island Doctor« (Erstveröffentlichung eben­dort) in The Wolfe Archipelago (1983) publi­ziert. Diese vier Erzählungen, die jeweils für sich stehen, jedoch die Strukturen und Themen der ande­ren Texte wider­spie­geln, stel­len eine Art »kubi­sti­sches Porträt« von Identität dar. Das zugrun­de­lie­gende onto­lo­gi­sche Problem wird mit einer Begrifflichkeit erfasst, das aus­drück­lich der SF ange­hört. Auch wenn nur wenige seiner Werke der Jugendliteratur zuzu­rech­nen sind oder mit dem Gedanken an ein juve­ni­les Publikum geschrie­ben wurden, werden die Archipelago ‑Texte – wie auch meist seine län­ge­ren Geschichten – aus der Sicht von Kindern erzählt, was ihnen eine zutiefst trü­ge­ri­sche Aura von Eindeutigkeit ver­leiht. Obwohl alle Oberflächen bei Wolfe fast immer mit großer Präzision dar­ge­stellt werden, wird die eigent­li­che Geschichte zumeist über Umwege erzählt; sie ent­hüllt sich primär durch Entschlüsselung und einem Verständnis für die rich­tige hier­ar­chi­sche Anordnung der Einzelteile. Die Archipelago-Erzählungen nutzen den meta­pho­risch frucht­ba­ren Insel-Kontext, dessen sie sich auf viel­fäl­tige Weise bedie­nen. »The Island of Doctor Death and Other Stories« schrei­tet mit traum­wand­le­ri­scher Sicherheit die sich ver­än­dern­den Grenze ab, welche die Phantasie von der Realität trennt – ein klei­ner Junge zieht sich aus der rauen Umgebung der Erwachsenen in die ein­deu­ti­gere Welt zurück, die von einem Pulpmaga­zin her­auf­be­schwo­ren wird. »The Death of Doctor Island« erwei­tert dieses Thema und kehrt es um; es wird die Behandlung eines psy­chisch kran­ken Kindes geschil­dert, das in eine künst­li­che Umgebung ein­ge­sperrt ist, die auf seine gei­stige Verfassung reagiert. In »The Doctor of Death Island« wird ein kryo­ge­nisch ein­ge­fro­re­ner Gefangener auf­ge­weckt und stellt fest, dass seine Isolation durch Unsterblichkeit noch ver­stärkt worden ist. Alle drei Protagonisten müssen in einem für Wolfe typi­schen Manöver ver­su­chen, die Geschichten, die ihnen erzählt werden, zu ent­zif­fern und zu durch­drin­gen, um sich auf diese Weise (viel­leicht) zu befreien. Für »The Death of Doctor Island« wurde Wolfe mit einem Nebula aus­ge­zeich­net.

Während der 1970er Jahre fuhr Wolfe fort, mit beträcht­li­chem Tempo Erzählungen zu ver­öf­fent­li­chen; bis zum Ende des Jahrzehnts wurden wenig­stens sieb­zig gedruckt. In den 1980er Jahren kon­zen­trierte er sich zuneh­mend auf Romane, und seine Produktion an Kurzgeschichten ließ spür­bar nach; mit dem Beginn der 1990er Jahre nahm sein Ausstoß jedoch wieder zu. Letztendlich hat er über zwei­hun­dert Erzählungen ver­öf­fent­licht. Sein kür­ze­ren Texte liegen in ver­schie­de­nen Sammelbänden vor, ange­fan­gen mit The Island of Doctor Death and Other Stories and Other Stories (1980) und Gene Wolfe’s Book of Days (1981 <Das Buch der Feiertage [München: Heyne, 1986], dt. von Irene Bonhorst, Birgit Reß-Bohusch & Biggy Winter>; 1992 erwei­tert unter dem Titel Castle of Days). Posthum erschien The Best of Gene Wolfe (2023); The Dead Man and Other Horror Stories (2023) ent­hält einige frühe Erzählungen, aber vor allem solche aus dem 21. Jahrhundert; The Wolfe at the Door (2023) ver­ei­nigt Texte, die im Laufe von Wolfes gesam­ter Karriere ent­stan­den sind.

Zu den Kurzgeschichten und Novellen von beson­de­rem Interesse zählen »Three Million Square Miles« in The Ruins of Earth (1971, hrsg. von Thomas M. Disch), »Feather Tigers« in Edge (Herbst/Winter 1973), »La Befana« in Galaxy (January/Februar 1973), »The Hero as Werwolf« in The New Improved Sun (1975, hrsg. von Thomas M. Disch), »Tracking Song« in In the Wake of Man (1975, hrsg. von Roger Elwood), »The Eyeflash Miracles« in Future Power (1976), hrsg. von Gardner Dozois & Jack Dann), »Seven American Nights« in Orbit 20 (1978, hrsg. von Damon Knight), »War Beneath the Tree« in Omni (Dezember 1979) und »The Detective of Dreams« in Dark Forces (1980, hrsg. von Kirby McCauley). In den 1980ern neigte Wolfe dazu, die kurze Form auf das Verfassen traum­ar­ti­ger Gedankenspiele zu beschrän­ken. Zu den inter­es­san­te­ren Geschichten ab 1990 gehö­ren »The Ziggurat« in Full Spectrum 5 (1995, hrsg. von Tom Dupree, Jennifer Hersh & Janna Silverstein), eine kom­plexe Meditation über Aliens und Entfremdung, sowie »Memorare« in Fantasy and SF (April 2007), eine medi­en­kri­ti­sche Novelle, die an Begräbnisgedenkstätten spielt, die über das ganze Sonnensystem ver­teilt sind. In dieser späten Prosa ist ein spe­zi­fisch US-amerikanischer Einfluss zu erken­nen, näm­lich der von Algis Budrys. Er ist im Hinblick auf die »Tiefenstruktur« von Erzählungen mög­li­cher­weise Wolfes bedeu­tend­ster Vorläufer; beide Autoren schu­fen laby­rin­thi­sche Werke, die zu betre­ten inhalt­lich für Protagonisten und in ästhe­ti­scher Hinsicht für Leser:innen glei­cher­ma­ßen ris­kant ist.

Wolfes erster Roman, Operation ARES (1970 <Unternehmen Ares [Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe, 1971], dt. von Sven Illgen>), in dem die USA im 21. Jahrhundert dem tech­no­lo­gi­schen Fortschritt den Rücken gekehrt haben und von ihrer auf­ge­ge­be­nen Mars kolo­nie infil­triert werden, wurde vom Verlag stark gekürzt und liest sich wie ein Gesellenstück. Trotzdem ist es typisch für Wolfe, inso­fern der Protagonist – nach­dem er so getan hat, als gehöre er der pro-marsianischen Untergrundbewegung ARES an – wider­wil­lig zu ihrem tat­säch­li­chen Anführer wird. Der näch­ste Roman, The Fifth Head of Cerberus (1972 <Der fünfte Kopf des Zerberus [Wittenberge: Carcosa, 2023], dt. von Hannes Riffel>), besteht aus drei län­ge­ren Erzählungen, wobei die Titelgeschichte bereits in Orbit 10 (1972) ver­öf­fent­licht wurde. Das Buch lässt sich als ein Mosaikroman bezeich­nen. Es spielt auf den zwei Planeten eines fernen Sonnensystems, wo sich Siedler fran­zö­si­schen Ursprungs nie­der­ge­las­sen haben, und ver­bin­det Aliens, Anthropologie, Klone und andere Elemente in einer äußerst ein­falls­rei­chen Erkundung von Identität und Individualität. Hier wird zum ersten Mal in aller Deutlichkeit vor­ge­führt, wie schwie­rig es ist, Wolfe zu lesen, ohne fort­wäh­rend auf die sub­ti­len – aber aus­nahms­los maß­geb­li­chen – Hinweise zu achten, die im Text ver­streut und ver­ständ­nis­lei­tend sind. Wie in allen seinen bedeu­ten­den Werken erzählt der Protagonist (in diesem Fall gibt es noch einen zwei­ten) die Geschichte seiner Kindheit. Dies tut er aus kon­zep­tio­nel­len Gründen in der ersten Person; eine Formalisierung der Beichtform, deren Wert uner­bitt­lich infrage gestellt wird und deren Erkenntnisse bei­nahe aus­nahms­los ver­schlei­ert werden. Die Elternschaft des Klons, der den ersten Teil erzählt, ist, wie in Wolfes Werken üblich, pro­ble­ma­tisch – oder wird ver­heim­licht; die Identitätsfrage nimmt an schmerz­haf­ter Intensität zu, als klar wird, dass ein Gestaltwandler (näm­lich der zweite Protagonist) von einem ande­ren Planeten die Identität eines Anthropologen ange­nom­men hat. Am Ende des Romans ver­kör­pern beide Protagonisten – einer ein Klon, der gen­tech­nisch so mani­pu­liert wurde, dass er vor­her­ge­hende Identitäten wie­der­holt, der andere ein Hochstapler, der nicht nur im Sarg seines fin­gier­ten Ichs gefan­gen ist, son­dern tat­säch­lich im Gefängnis sitzt – eine über­aus viel­schich­tige und düstere Vision davon, auf welche Weise Bewusstsein im Lauf der Zeit geformt wird. Wie in den besten Werken Wolfes sind auch hier alle Gesichter Masken.

Peace (1975 <Frieden [Wittenberge: Carcosa, 2025], dt. von Hannes Riffel>), ein im Mittleren Westen der USA spie­len­der phan­ta­sti­scher Roman, ist viel­leicht Wolfes kom­ple­xe­stes und per­sön­lich­stes Werk. Obwohl es sich nicht um Science Fiction han­delt, ist Peace von zen­tra­ler Bedeutung, um die ande­ren Romane des Autors umfas­send zu ver­ste­hen. Es geht um den Sinn für die große Schmerzlichkeit jeden Lebens und um den (in diesem Fall) enor­men Preis eines Daseins, das so unzu­rei­chend gestal­tet ist, dass es nicht ehr­lich erzählt werden kann, selbst wenn es darum geht, eine Seele zu retten. Der Protagonist des Buches – der die Geschichte seiner Kindheit und seines frühen Mannesalters, ohne sich dessen bewusst zu sein, von jen­seits des Grabes erzählt –, trans­por­tiert ein Selbstporträt, das den Künstler zugleich als Geschichtenerzähler und bru­ta­len Mörder zeigt.

The Devil in the Forest (1976 <Der Teufel hinter den Wäldern [Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe, 1980], dt. von Thomas Ziegler>) ist ein Jugendbuch, das zur Zeit von König Wenzeslaus spielt und kaum phan­ta­sti­sche Elemente ent­hält, aber in seiner sti­li­sti­schen Leichtigkeit eini­ges mit Pandora by Holly Hollander (1990) gemein­sam hat; mög­li­cher­weise sind beide Romane zur selben Zeit ent­stan­den. Danach kon­zen­trierte sich Wolfe auf mehr­bän­dige Romane und Serien, was er bis zu seinem Lebensende bei­be­hal­ten sollte.

Wolfes näch­stes Werk ist sein ehr­gei­zig­stes – die Bücher der Sonne umfas­sen drei mehr­bän­dige Romane sowie wei­tere Texte. Die Arbeit daran nahm den Großteil der Jahre zwi­schen 1980 und 2000 in Anspruch, und das Ergebnis machte ihn schließ­lich einem grö­ße­ren Publikum bekannt. Jeder dieser Romane ist als Manuskript gestal­tet, das vom Protagonisten der Geschichte (oder von einer Figur, die in einer engen Beziehung zu diesem steht) nie­der­ge­schrie­ben wurde; die Struktur ist die eines unzu­ver­läs­si­gen rekur­si­ven Rückblicks, wie in fast allen von Wolfes umfang­rei­chen Texten. Der erste (und am höch­sten geschätzte) Teil dieses Projekts ist The Book of the New Sun, eigent­lich ein ein­zi­ger durch­ge­hen­der Roman, der aus kom­mer­zi­el­len Gründen in vier Bände auf­ge­teilt wurde: The Shadow of the Torturer (1980 <Der Schatten des Folterers [München: Heyne, 1984], dt. von Reinhard Heinz>), The Claw of the Conciliator (1981 <Die Klaue des Schlichters [München: Heyne, 1984], dt. von Reinhard Heinz>), The Sword of the Lictor (1982 <Das Schwert des Liktors [München: Heyne, 1984], dt. von Reinhard Heinz>) und The Citadel of the Autarch (1983 <Die Zitadelle des Autarchen [München: Heyne, 1984], dt. von Reinhard Heinz>). Die ersten beiden Bände liegen gesam­melt als Shadow and Claw (1994) vor, Band 3 und 4 als Sword and Citadel (1994). Der ganze Roman wurde schließ­lich in einem Band unter dem Titel Severian of the Guild (2007) ver­öf­fent­licht. The Castle of the Otter (1983) ent­hält Essays und Erzählungen, die The Book of the New Sun kom­men­tie­rend erklä­ren. Geschichten, die angeb­lich dem titel­ge­ben­den Buch ent­nom­men wurden, das Severian auf seinen Reisen bei sich trägt, erschie­nen als »The Boy Who Hooked the Sun: A Tale from the Book of Wonders of Urth and Sky« (1985) und »Empires of Foliage and Flower: A Tale from the Book of Wonders of Urth and Sky« (1987); »A Solar Labyrinth« in Fantasy and SF (April 1983) ist ein meta­fik­tio­na­ler Text über das ganze Book. The Shadow of the Torturer wurde mit einem World Fantasy Award
aus­ge­zeich­net und The Claw of the Conciliator mit einem Nebula.

Als ein auf den Schultern von Riesen ste­hen­des Erzählwerk – solche Arbeiten erschei­nen aus nahe­lie­gen­den Gründen erst in der Spätphase des Genres, das sie trans­for­mie­ren – geht The Book of the New Sun grund­sätz­lich auf viele SF- und Fantasy-Elemente zurück; dar­über hinaus ergibt sich ein beson­de­rer Bezug zu »Die ster­bende Erde« von Jack Vance (siehe auch »Ferne Zukunft«) und die Subkategorie der »Planetary Romance«. The Book of the New Sun spielt Äonen in der Zukunft – auf Urth, einer Welt, die von den mensch­li­chen Relikten in einem sol­chen Maße beein­flusst wurde, dass Archäologie und Geologie zu einer Wissenschaft ver­schmol­zen sind. Der Planet wird nach Botschaften abge­sucht, die wäh­rend unzäh­li­ger Jahre unent­wirr­bar mit­ein­an­der ver­mischt wurden. Die Welt, in die Severian hin­ein­ge­bo­ren wird, erstickt tat­säch­lich so sehr unter Formeln und Ritualen, dass The Shadow of the Torturer zunächst der Fantasy-Kategorie Schwert und Magie zuge­rech­net wurde, obwohl es – wie üblich bei Wolfe – genü­gend Hinweise gibt, dass sich das Buch mit den Begriffen der Science Fiction erklä­ren lässt. Severian ist offen­bar ein Waise, der als Foltererlehrling vom Orden der Wahrheitssucher und Büßer erzo­gen wird, und zwar in seiner ange­stamm­ten Wohnstätte, dem Matchin-Turm, der auf dem Anwesen der Zitadelle in der Hauptstadt Nessus zwi­schen ähn­li­chen Gebäuden steht. (Eines der leich­ter zu lösen­den Rätsel, die Wolfe uns stellt, dreht sich darum, dass es sich bei den Türmen in Wirklichkeit um uralte Raumschiffe han­delt). Severian wächst zu einem jungen Erwachsenen heran und pflegt schließ­lich zu inti­men Umgang mit der gefan­ge­nen Thecla, einer gen­ma­ni­pu­lier­ten Aristokratin, die dem Tod geweiht ist. Er wird ver­bannt, bereist das Land und wird hoch im Norden in einen Krieg ver­wickelt, wobei er den alten Autarchen – den Schlichter — trifft, der die Welt beherrscht und erkennt, dass Severian sein Nachfolger werden soll. Entsprechend nimmt Severian dessen Gedächtnis (das die Erinnerungen aller bis­he­ri­gen Autarchen umfasst) in sich auf, wie er zuvor schon bei Thecla gemacht hat. Dann wird er selbst zum Autarchen und ver­kün­det in einem denk­wür­di­gen Schluss seine Absicht, eine »neue Sonne« mit sich brin­gen zu wollen.

Die Handlung folgt einem klas­si­schen Muster und ist, ober­fläch­lich betrach­tet, unpro­ble­ma­tisch. Doch von der Anlage her unter­schei­det sich Severian grund­le­gend von den übli­chen Helden der SF oder der Science-Fantasy, denen er manch­mal zu ähneln scheint. Er erzählt die Geschichte seiner Kindheit und frühen Jugend mit eini­gem zeit­li­chen Abstand in einem täu­schend abge­klär­ten Tonfall und behaup­tet, über ein unfehl­ba­res Gedächtnis zu ver­fü­gen (was nicht bedeu­tet, dass er immer unfehl­bar die Wahrheit sagt); er macht eben­falls deut­lich, dass er von einem sehr frühen Alter an wusste, dass er die wie­der­ge­bo­rene Fleischwerdung des Schlichters ist (oder war oder sein wird). Letztlich han­delt es sich bei ihm um eine Messias ‑Gestalt aus einer frü­he­ren oder – auf­grund eines Zeitparadoxons – aus einer par­al­le­len Wirklichkeit, dessen Wiedergeburt ein Vorzeichen bzw. die Ursache dafür ist, dass die Neue Sonne nach Urth gebracht wird. An diesem Punkt fallen SF und Katholizismus zusam­men, denn die Neue Sonne ist gleich­zei­tig mate­rie­spen­den­des Weißes Loch und Offenbarung. Bildsprache und Struktur von Das Buch der Neuen Sonne lassen keinen Zweifel daran, dass Severian selbst Aspekte sowohl von Apollo wie von Christus in sich ver­ei­nigt und dass die Geschichte seines Leben eine säku­lare Übertragung der Parusie ist, eine Wiederkunft des Herrn. Die Grausamkeit, mit der er sich selbst und andere behan­delt, ist die Grausamkeit des Universums an sich; und seine Ehrfurcht vor der Welt stellt keine ein­fa­che Gnade dar. Seine Familie ist eine Heilige Familie, dem Anschein nach ärm­lich und anonym, aber all­ge­gen­wär­tig; auch die Tatsache, dass sie nie eine »Hauptrolle« spielt, bringt ebenso reli­giöse wie ästhe­ti­sche Implikationen mit sich.

In der Fortsetzung, The Urth of the New Sun (1987 <Die Urth der neuen Sonne [München: Heyne, 1990], dt. von Reinhard Heinz>), durch­läuft Severian meh­rere Realitätsebenen des Universums bis zu dem Punkt, an dem ent­schie­den ist, ob er als Autarch die Eignung besitzt, die Neue Sonne heim­zu­füh­ren. Nachdem er inzwi­schen mehr als einmal gestor­ben ist, hat er sich zu einem Schatten ent­wickelt, der in einer Wesenheit lebt; er ist beides: mensch­lich und post­hu­man. Diese Kreatur besteht, wie vor­her­be­stimmt, die Prüfung. Urth ver­sinkt in den Fluten, die das Weiße Loch ankün­di­gen, die Wiedergeburt des Lichts. Einige über­le­ben, um von vorne anzu­fan­gen; oder um so wei­ter­zu­ma­chen wie bisher.

Die zweite Romanfolge, The Book of the Long Sun – bestehend aus Nightside the Long Sun
(1993 <Die Nachtseite der langen Sonne [München: Heyne, 1998], dt. von Jürgen Langowski>) und Lake of the Long Sun (1994 <Der See der langen Sonne [München: Heyne, 1998], dt. von Jürgen Langowski>), als Sammelband unter dem Titel Litany of the Long Sun (1994), sowie Caldé of the Long Sun (1994 <Der Calde der langen Sonne [München: Heyne, 1998]) und Exodus from the Long Sun (1996 <Der Exodus aus der langen Sonne [München: Heyne, 1998], dt. von Jürgen Langowski>), als Sammelband unter dem Titel Epiphany of the Long Sun (1997) –, spielt einige tau­send Jahre früher, scheint aber den glei­chen mythi­schen Ursprung zu haben wie The Book of the New Sun. Es han­delt sich eben­falls um eine ein­zige län­gere Erzählung, die dieses Mal von einem Schüler des Protagonisten nie­der­ge­schrie­ben wurde, und die wie sein Vorgänger dechif­friert werden muss. Die Handlung spielt aus­schließ­lich an Bord eines Generationenraumschiffs , ein in sich geschlos­se­nes Universum, das »Whorl« genannt wird. Der Protagonist, Patera Silk, wird nach und nach zu einer der Hauptfiguren im Kampf um das Schicksal der unter­ge­hen­den Kultur an Bord des Schiffes. Dazu gehört, dass ihm auf den ersten Seiten der Geschichte eine Erleuchtung wider­fährt: Seinem Gehirn wird eine über­wäl­ti­gende Informationsflut aus Erinnerungen ein­ge­schrie­ben, und zwar von einem Gott oder einer KI, die der Avatar irgend­ei­ner Figur von Urth zu sein scheint und viel­leicht jemand ist, der von der Ankunft Christi kündet. Schlussendlich stellt sich heraus, dass die Whorl ihr Ziel erreicht hat: ein System aus zwei Planeten, dem haupt­säch­li­chen Schauplatz von The Book of the Short Sun; und dass die Beeinträchtigungen des Lebens an Bord der Whorl von gehei­men Herrschern in Gestalt eines Götterpantheons ver­ur­sacht wurden, bei denen es sich aber auch um KIs han­deln könnte. Ebenso wird deut­lich, dass Silk eine Moses-Gestalt reprä­sen­tiert: Ihm ist es bestimmt, seinem wan­dern­den Volk den Weg ins Gelobte Land zu weisen, das er selbst nie betre­ten wird.

Der letzte Roman schließ­lich, The Book of the Short Sun – bestehend aus On Blue’s Waters (1999), In Green’s Jungles (2000) und Return to the Whorl (2001), als Sammelband unter dem Titel The Book of the Short Sun (2001) –, dürfte unter Wolfes län­ge­ren Werken viel­leicht am schwer­sten zu ver­ste­hen sein. Das Manuskript, aus dem es besteht, ist so etwas wie eine Fortsetzung der Lebensgeschichte, die der Schüler Horn über seinen Herrn Patera Silk schreibt. Dieser taucht offen­bar erst im letz­ten Band auf, auch wenn es Silk ist oder eine Inkarnation von Horn und Silk, von der die Geschichte letzt­lich nie­der­ge­schrie­ben wird.

Nachdem Horn gebe­ten wurde, auf die Whorl zurück­zu­keh­ren und zu ver­su­chen, Silk zu über­zeu­gen, seinen not­lei­den­den Siedlern einen Besuch abzu­stat­ten und sie vor einer fata­len Zwistigkeit zu bewah­ren, unter­nimmt er so etwas wie eine fan­ta­sti­sche Reise über die Planeten Blau und Grün, besucht ver­schie­dene Städte und Gesellschaften, manche davon Utopien, andere Dystopien, und befreit Silk (oder sich selbst) von der buch­stäb­li­chen Blindheit, die den abschlie­ßen­den Band bestimmt. Inzwischen bestä­tigt sich im Rahmen einer Zeitdilatation die Möglichkeit, dass sich alle drei Großwerke zur selben Zeit zutra­gen. Tatsächlich reist Horn/Silk zurück nach Urth und besucht den jungen Severian, der erklärt, Horn/Silk seien so außer­ge­wöhn­lich, dass er sie in seiner Beichte, aus der das erste der drei Großwerke besteht, nicht einmal erwäh­nen kann. Schließlich begibt sich Silk (viel­leicht erst­mals ganz er selbst) in den inter­stel­la­ren Raum hinaus, wo er – in einem Schluss , der jenen wider­spie­gelt und ver­stärkt, mit dem The Book of the New Sun abschließt – im Rahmen einer Christusanalogie nach Menschen fischen wird.

Wolfes Romane der 1980er und 1990er Jahre sind viel­fäl­tig und größ­ten­teils der Fantasy zuzu­rech­nen. Free Live Free (1984 <Frees Vermächtnis [München: Heyne, 1995], dt. von Jürgen Langowski>) ist eine kom­plexe Zeitreisegeschichte, die sich nur schwer zusam­men­fas­sen lässt und hinter der sich eine Neuerzählung von L. Frank Baums The Wonderful Wizard of Oz (1900) ver­birgt. There Are Doors (1990) spielt in einer Parallelwelt, die stark an die USA wäh­rend der Großen Depression erin­nert, und schil­dert auf äußerst ambi­va­lente Weise die lebens­be­droh­li­che exo­game Leidenschaft eines Mannes für eine Göttin. Castleview (1990) ver­pflanzt die Artussage fast voll­stän­dig nach Illinois, wo ein neuer Arthur für den langen Kampf rekru­tiert wird.

Interessanter ist viel­leicht die Latro-Serie, bestehend aus Soldier of the Mist (1986 <Soldat des Nebels [München: Heyne, 1989], dt. von Jürgen Langowski>), Soldier of Arete (1989) und Soldier of Sidon (2006). Schauplätze sind Griechenland und Nordafrika etwa fünf­hun­dert Jahre vor unse­rer Zeitrechnung; erzählt wird in kurzen Kapiteln, die jeweils aus den Erinnerungen an einen ein­zi­gen Tag bestehen. Hauptfigur ist Latro, ein Soldat, den eine Göttin oder irgend­ein ande­res Geschöpf bestraft hat: Er kann sich an nichts erin­nern, was länger als vier­und­zwan­zig Stunden zurück­liegt, sodass jedes Geständnis, das er sich vor­nimmt, nie dazu führen wird, dass er aus der Gefangenschaft ent­las­sen wird. Entsprechend fun­giert die Serie, auf jeder mög­li­chen Ebene, als Spiegelbild von The Book of the New Sun, wobei Latros Erinnerungsverlust die Kehrseite zu Severian dar­stellt, der nicht ver­ges­sen kann. Das antike Griechenland wie­derum ist die Kehrseite von Urth – als Anfang von etwas, und nicht als Ende –, und das offene Ende der Serie bildet das Gegenteil jener Erzählstruktur, die unauf­halt­sam auf Severians Kommen zuführt. The Wizard (2004 <Der Zauberer [Stuttgart: Klett-Cotta, 2006], dt. von Jürgen Langowski>) und The Knight (2004 <Der Ritter [Stuttgart: Klett-Cotta, 2006], dt. von Jürgen Langowski>) – als Sammelband The Wizard Knight (2005) – sind wieder Fantasy und spie­len in einem System sphä­ri­scher Welten, die ein­an­der wie Matroschkas umschlie­ßen, alle auf onto­lo­gi­sche wie theo­lo­gi­sche Weise gott­ge­wollt; auch hier taucht eine Artus-Gestalt auf.

Zwei spä­tere Romane sind in sich abge­schlos­sen. Pirate Freedom (2007) erzählt von einem plötz­li­chen Bruch inner­halb der Zeit; ein Priester in einer Alternativwelt , die unse­rer nahen Zukunft gleicht, schreibt nieder, was er im 17. Jahrhundert als Seeräuber erlebt hat. Wieder han­delt es sich um eine Beichte, aller­dings um eine recht trot­zige. Home Fires (2011) spielt in einer an Energiearmut lei­den­den, dys­to­pi­schen nahen Zukunft in den USA und wird aus der Sicht des Ehemanns einer Soldatin erzählt, deren Einsätze auf fernen Planeten, wo sie gegen Außerirdische kämpft, ihre Identität kom­pro­mit­tiert haben. Die hoch­dra­ma­ti­sche Folge von Abenteuern, in denen ihre Versuche dar­ge­stellt werden, die eigene Welt zu ver­ste­hen, trägt kaum dazu bei, die pro­phe­ti­sche Finsternis zu ver­schlei­ern, die diesem Spätwerk zugrunde liegt. Die Borrowed Man-Serie schließ­lich, bestehend aus A Borrowed Man (2015) und Interlibrary Loan (2020), spielt in einem nur noch spär­lich besie­del­ten Nordamerika der nahen Zukunft, wo die Regierung euge­ni­sche Prinzipien auf die extrem geschrumpfte Bevölkerung anwen­det; der Protagonist, Ern (was »Urn« aus­ge­spro­chen wird) A Smithe, ein Klon, der die Persönlichkeit eines schon lange ver­stor­be­nen Schriftstellers in sich trägt, ist vor dem Gesetz ein Buch in einer Bibliothek, das aus­ge­lie­hen oder an andere Bibliotheken wei­ter­ge­ge­ben werden kann. Das Spiel mit Tod und Inkarnation kul­mi­niert im zwei­ten Band, als Smythe erfährt, dass eine frü­here Version seiner selbst ermor­det wurde; über­all gibt es Portale, die tha­n­atro­pisch oder para­die­sisch sind oder beides. Mit beklem­men­der, nüch­ter­ner Stimme bildet die Serie den Abschluss von etwas, mit dem sich Wolfe wäh­rend seiner ganzen Laufbahn beschäf­tigt hat: dem auf eng­sten Raum beschränk­ten Wechselspiel zwi­schen dem Medium und der Botschaft, wobei in diesem Fall Medium und Botschaft iden­tisch sind.

Es ist mög­lich, dass Wolfe nie eine ein­zige ori­gi­nelle SF-Idee hatte oder nie eine bedeu­tende, jeden­falls keine von dem Kaliber, wie sie Larry Niven oder Greg Bear her­vor­ge­bracht haben. Sein Stellenwert beruht nicht auf dieser Form von Originalität. Wenn wir für einen Moment seinen Umgang mit Sprache bei­sei­te­las­sen, wie blumig diese auch sein mag, und ebenso seine bis ins klein­ste Detail aus­ge­ar­bei­te­ten Handlungsstrukturen und die schritt­weise Enthüllung ein­zel­ner Geschehnisse, dann lässt sich behaup­ten, dass Wolfes Bedeutung für die Science Fiction in seiner Fähigkeit bestand, gene­ri­sche Modelle und Methoden wie ein Schwamm auf­zu­sau­gen und auf hohem Niveau zu trans­for­mie­ren. Wolfes Sprache ist manch­mal erkenn­bar par­odi­stisch, und viele seiner Kurzgeschichten spie­geln mög­li­cher­weise absicht­lich ältere Vorbilder aus dem gesam­ten Pantheon der Genre-SF wider; doch die Beziehung zwi­schen den gegen­wär­ti­gen und den vor­aus­ge­hen­den Texten besteht nicht nur in der »Melodie« der Worte selbst. Eine musi­ka­li­sche Analogie ist viel­leicht die Barocktechnik der par­odi­sti­schen Kantate, bei der eine säku­lare Komposition mit­tels ehr­furchts­vol­ler Verklärung (man­ches davon unter­grün­dig) in ein hei­li­ges Werk ver­wan­delt wird; solche Parodien können, sofern sie von bedeu­ten­den Komponisten stam­men, oft erst nach langem Studium ent­schlüs­selt werden. Wolfes Bedeutung ist ent­spre­chend zwie­fäl­tig: Wie oben dar­ge­legt, ist sein Werk von aller­höch­stem Rang, und er trägt die fik­tio­na­len Welten der SF wie einen viel­far­bi­gen Mantel. Seine besten Erzählungen sind auf eine Weise dicht und poly­chrom, die erst noch erschlos­sen werden muss. Ein Anthologie mit Hommagen, Shadows of the New Sun: Stories in Honor of Gene Wolfe (2013, hrsg. von Bill Fawcett & J E Mooney), zeigt zu Genüge, wie weit­rei­chend sein Einfluss auf andere Autor:innen war und ist.

1996 wurde Wolfe für sein Lebeswerk mit einem World Fantasy Award aus­ge­zeich­net; 2007 wurde er in die Science Fiction Hall of Fame auf­ge­nom­men und 2012 mit dem SFWA Grand Master Award ein wei­te­res Mal für sein Lebenswerk geehrt.

John Clute


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Mit freund­li­cher Genehmigung von
John Clute & David Langford
© der Übersetzung 2025 by Hannes Riffel
Redaktion: Christopher Ecker & Kai U. Jürgens
Für die deutsch­spra­chige Veröffentlichung ein­ge­rich­tet von Kai U. Jürgens