Samuel R. Delany

Artikel aus der Science Fiction Encyclopedia
Deutsch von Hannes Riffel
Link zum Original: Samuel R. Delany

(*1942) US-amerikanischer Schriftsteller und Kritiker, der inner­halb des Genres zu den ein­fluss­reich­sten und meist dis­ku­tier­ten Autor:innen zählt; er hat seit 1975 an meh­re­ren Universitäten unter­rich­tet, lehrte Vergleichende Literaturwissenschaften an der University of Massachusetts Amherst (1988–1999), Englische Literatur an der SUNY Buffalo (1999/2000) und Englische Literatur und Kreatives Schreiben an der Temple Universität in Philadelphia (2001–2015). Sein kul­tu­rel­ler Hintergrund ist viel­fäl­tig: Er ist schwarz, im New Yorker Stadtteil Harlem gebo­ren und auf­ge­wach­sen und folg­lich mit dem schwar­zen Ghetto ver­traut; später ermög­lich­ten Stipendien es ihm, die Dalton School und die renom­mierte Bronx High School of Science zu besu­chen (wobei er das College aller­dings nach nur einem Semester ver­ließ). Dieser zwie­fa­che Hintergrund zeigt sich in allen seinen Texten. Delany wurde als eines der jungen Wunderkinder der Science Fiction berühmt, wenn­gleich umfang­rei­che Teile seines ersten Romans erst vor Kurzem unter dem Titel Voyage, Orestes! [A Surviving Novel Fragment] (2019; ver­fasst 1960–63) ver­öf­fent­licht wurden. Sein erster publi­zier­ter SF-Text war eben­falls ein Roman, der erschien, als er zwan­zig war: The Juwels of Aptor (1962 um ein Drittel gekürzt als Teil eines Doppelbandes; voll­stän­dig erst­mals 1968; über­ar­bei­tet 1971 <Die Juwelen von Aptor, dt. von Uta Münch in: Die Ballade von Beta 2 [Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe, 1985]>). Darauf folgte die Trilogie The Fall of the Towers: Captives of the Flame (1963 als Teil eines Doppelbandes; 1968 über­ar­bei­tet unter dem Titel Out of the Dead City), The Towers of Toron (1964 als Teil eines Doppelbandes; 1968 über­ar­bei­tet) und City of a Thousand Suns (1965; 1969 über­ar­bei­tet), zusam­men als The Fall of the Towers (1970 als Sammelband der über­ar­bei­te­ten Fassungen <Die Türme von Toron [Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe, 1985], dt. von Annette von Charpentier>). Ein wei­te­rer früher Roman war The Ballad of Beta‑2 (1965 als Teil eines Doppelbandes; kor­ri­giert 1977 <Die Ballade von Beta 2, dt. von Annette von Charpentier in: Die Ballade von Beta 2 [Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe, 1985]>).

Die frühen Romane weisen gewisse Gemeinsamkeiten auf, und manche der Themen, die darin ein­ge­führt wurden, finden sich regel­mä­ßig in Delanys Werk wieder. Die Handlungsstruktur ent­spricht fast aus­nahms­los der einer Queste oder einer Form von phan­ta­sti­scher Reise. Häufig kommen kör­per­lich und gei­stig ver­sehrte Protagonisten vor. Schillernde Details, die zunächst über­ra­schen, aber bei nähe­rer Betrachtung schlüs­sig sind, werden ver­wen­det, um den gesell­schaft­li­chen Hintergrund der Geschichten aus­zu­ge­stal­ten. Delanys Interesse an Mythologie tritt in Form meta­pho­ri­scher Anspielungen auf exi­stie­rende Mythen zutage oder als Untersuchung der Art und Weise, wie neue Mythen ent­ste­hen; von zen­tra­ler Bedeutung ist dieses Element bei The Ballad of Beta‑2, wo ein Anthropologiestudent (siehe Anthropologie) die realen Ereignisse unter­sucht, die einem Volkslied zugrunde liegen, das einer pri­mi­ti­ven irdi­schen Kultur ent­stammt, die an Bord einer Flotte von Generationenraumschiffen unter­wegs ist. Dieser Roman zeigt außer­dem ein Interesse an Kommunikation und an Linguistik, beides Themen, die zen­trale Bedeutung für Delanys Werk anneh­men soll­ten. Auch in The Fall of the Towers finden sich viel­fäl­tige kul­tu­relle Spekulationen, wenn­gleich die melo­dra­ma­ti­sche Geschichte über Krieg, Mutationen, ver­rückte Computer und eine bös­ar­tige kos­mi­sche Intelligenz eini­ger­ma­ßen kon­ven­tio­nell ist. Die ursprüng­li­chen drei Bände von The Fall of the Towers spiel­ten auf der­sel­ben Erde »nach der Katastrophe« wie The Jewels of Aptor; die Verweise darauf wurden in der über­ar­bei­te­ten Fassung jedoch ent­fernt.

Delany ver­öf­fent­lichte 1966 zwei wei­tere Romane: Empire Star (1966 als Teil eines Doppelbandes; 1977 mit kor­ri­gier­tem Text <Imperiumsstern, dt. von Waltraud Götting & Hannes Riffel in: Vor der Revolution [Wittenberge: Carcosa, 2023], hrsg. von Hannes Riffel>) und Babel-17 (1966; 1969 über­ar­bei­tet <Babel-17 [Wittenberge: Carcosa, 2023], dt. von Jakob Schmidt>). Beide, vor allem Letzterer, der mit einem Nebula aus­ge­zeich­net wurde, lassen einen merk­lich höhe­ren Grad an Differenziertheit erken­nen. Babel-17 – die Motti der ein­zel­nen Kapitel stam­men von Marylin Hacker, mit der Delany von 1961 bis 1980 ver­hei­ra­tet war – han­delt von Sprache, Hauptfigur ist eine Dichterin. In einer galak­ti­schen Gesellschaft der Zukunft werden Funksprüche in einer offen­bar außer­ir­di­schen Sprache emp­fan­gen; diese stehen sehr wahr­schein­lich in Zusammenhang mit Sabotage und einer außer­ir­di­schen Invasion. In einem Großteil des Romans geht es darum, diese Sprache zu ent­schlüs­seln (siehe Linguistik). Delany ver­ficht hier die Sapir-Whorf-Hypothese, dass unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit teil­weise auf unse­rer Sprache beruht; die ver­schie­de­nen Gesellschaften in diesem Roman sind weit besser aus­ge­ar­bei­tet als in frü­he­ren Werken und werden größ­ten­teils in Form von Gedanken- und Sprachmustern dar­ge­stellt.

Darüber hinaus begann Delany 1967, Kurzgeschichten zu ver­fas­sen. Gemeinhin wurde er als jemand ange­se­hen, der an vor­der­ster Front der New Wave stand und grö­ße­ren Wert auf kul­tu­relle Spekulationen legte, auf die Geisteswissenschaften, auf Psychologie und Mythologie als auf Technologie und natur­wis­sen­schaft­lich ori­en­tierte Science Fiction. Die Erzählung »Aye, and Gomorrah …« (1967 in der von Harlan Ellison her­aus­ge­ge­be­nen Anthologie Dangerous Visions <Gefährliche Visionen [Wittenberge: Carcosa, 2025 (in Vorbereitung)], dt. von Hannes Riffel u.a.> gewann einen Nebula Award, und der Kurzroman »Time Considered as a Helix of Semi-Precious Stones« (in New Worlds [Dezember 1968]) gewann den Hugo und den Nebula. Diese beiden, zusam­men mit Babel-17 und The Einstein-Intersection (1967; voll­stän­dig 1968 <Das Einstein-Vermächtnis [Wittenberge: Carcosa, 2024 (in Vorbereitung)], dt. von Jakob Schmidt>), das eben­falls einen Nebula gewann, wurden zusam­men in The Complete Nebula-Award-Winning Fiction (1986 als Sammelband) ver­öf­fent­licht; eine voll­stän­di­gere Zusammenstellung seiner Erzählungen findet sich in Driftglass: Ten Tales of Speculative Fiction (1971 <Treibglas. Erzählungen vom Rand der Wirklichkeit [Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe, 1982], dt. von Waltraud Götting>; erwei­tert 1993 unter dem Titel Driftglass/Starshards; noch­mals erwei­tert 2003 unter dem Titel Aye, and Gomorrah And Other Stories); die end­gül­tige Fassung ent­hält seine besten Kurzgeschichten.

Bei The Einstein Intersection han­delt es sich wohl um Delanys über­zeu­gend­stes Werk, zusam­men mit dem näch­sten Roman Nova (1968; 1969 mit kor­ri­gier­tem Text <Nova [Wittenberge: Carcosa, 2024 (in Vorbereitung)], dt. von Jakob Schmidt>) und der län­ge­ren Erzählung The Star Pit (in Worlds of Tomorrow [Februar 1967]; in Driftglass ent­hal­ten). The Einstein Intersection ist ein erstaun­lich dich­ter Text und mit anspie­lungs­rei­cher Bildsprache gespickt. Die Erde ist men­schen­leer (wobei nicht erklärt wird, wie es dazu gekom­men ist), und eine außer­ir­di­sche Spezies hat die kör­per­li­che Gestalt der Menschen ange­nom­men. In dem Versuch, den Sinn der mensch­li­chen Hinterlassenschaften zu ver­ste­hen, von denen sie umge­ben sind, eignen sie sich auch mensch­li­che Traditionen an. Avatare von Ringo Starr, Billy the Kid und Jesus Christus treten auf; der Held, ein schwar­zer Musiker, dem seine mör­de­ri­sche Machete als Instrument dient, ist Orpheus und Theseus. Das Buch ist eine Glanzleistung, wenn auch eine abgrün­dige, da sich die Verblüffung der Protagonisten, die ihr grund­le­gend ver­än­der­tes Leben zu ver­ste­hen suchen, nicht selten auf die Leser:innen über­trägt; ein Teil des Romantextes beruht auf Delanys Tagebüchern. Nova ist eine Kombination aus der Geschichte von Prometheus und der Gralssage, neu gefasst als über die Maßen ein­falls­rei­che Space Opera/Queste; das Feuer, das vom Himmel her­ab­reg­net, das leuch­tende Herz des Grals finden sich nur im Herzen einer explo­die­ren­den Nova (siehe die Elemente). Geschliffene Rede mischt sich (wie so oft auch im Werk von Delanys Zeitgenossen Roger Zelazny) mit sou­ve­rä­nem Slang und Diebesjargon. Hauptfigur des Buches ist ein für Delany typi­scher Protagonist, der Verbrecher/Ausgestoßene/Musiker/Künstler, dessen lite­ra­ri­sche Genealogie über Jean Genet (1910–1986) bis zu François Villon (1431–1485) zurück­reicht. In einer Rezension von Nova wurde Delany von Algis Budrys als »der beste Science-Fiction-Autor der Welt« bezeich­net (in Galaxy [Januar 1969]). Die Vielfalt der Kulturen in diesem wie in ande­ren Romanen Delanys bewirkt, dass sich Moral und Ethik rela­ti­vie­ren, plu­ra­li­stisch werden. Unterschiedliche Formen bizar­ren mensch­li­chen Verhaltens, von denen viele in der US-Gesellschaft jener Zeit als aso­zial betrach­tet wurden, erwei­sen sich unter den beschrie­be­nen Umständen als völlig natur­ge­mäß. Auch The Star Pit ist ein in hohem Maße struk­tu­rier­tes Werk; das zen­trale Bild darin ist das einer Ameisenkolonie/eines Käfigs/einer Falle/einer Mikroökologie, und eine Flucht von dort wird als etwas betrach­tet, das aufs Engste ver­bun­den ist mit emo­tio­na­ler Verstümmelung, sogar mit Bewusstseinsspaltung.

Delanys näch­ster Roman – keine Science Fiction, aber mit Elementen des Phantastischen – war der por­no­gra­phi­sche The Tides of Lust (1973; 1994 unter dem Titel Equinox <Äquinoktikum, [Bellheim: Edition Phantasia, 1997], dt. von Joachim Körber>); der Titel der Erstausgabe stammte nicht von ihm. The Mad Man (1994) und Hogg (1995<Hogg [Bellheim: Edition Phantasia, 2009]. dt. von Joachim Körber>) setzen diese Linie von Delanys Werk fort. In der Bildsprache, die manch­mal poe­tisch ist und oft – gewollt – wider­wär­tig, viel­leicht als ein Baudelaire’sches Initiationsritual, dürfte die Darstellung von extre­mem Sadomasochismus die mei­sten Leser:innen schockie­ren. Mitte der 1970er Jahre wurde auch all­ge­mein bekannt, dass Delany bise­xu­ell ist. In der Tat setzt sich sein ganzes spä­te­res Werk inten­siv mit den – fak­ti­schen, theo­re­ti­schen und manch­mal ver­schlun­ge­nen – kul­tu­rel­len Mechanismen von Erotik und Liebe aus­ein­an­der. Äußerst erhel­lend hin­sicht­lich des Zusammenhangs von Delanys eige­ner Sexualität und der Science Fiction, die er in den 1960ern schrieb, ist sein auto­bio­gra­phi­sches Werk The Motion of Light in Water: Sex and Science Fiction Writing in the East Village 1957–65 (1988; erwei­tert 1990 unter dem Titel The Motion of Light in Water: East Village Sex and Science Fiction Writing: 1960–65 <Die Bewegung von Licht in Wasser [Berlin: Golkonda, 2014], dt. von Jasper Nicolaisen>). Es gewann, trotz oder wegen seiner manch­mal bestür­zen­den Freimütigkeit, einen Hugo als bestes Sachbuch.

Die näch­sten beiden Romane von Delany waren Dhalgren (1975; 1977 kor­ri­giert; 2001 über­ar­bei­tet <Dhalgren [Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe, 1980], dt. von Annette von Charpentier]>) und Triton (1976; 1996 unter dem Titel Trouble on Triton: An Ambiguous Heteroptopia <Triton [Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe, 1981], dt. von Bodo Baumann>). Nach einem Zeitraum von sechs Jahren, in dem Delany kaum oder keine SF ver­öf­fent­lichte, löste Dhalgren eine Kontroverse aus. Der Roman ist äußerst lang, und seine Kritiker betrach­ten ihn, im Unterschied zur frü­he­ren spar­sa­men Darstellungsweise, als hem­mungs­los und aus­schwei­fend. Er wurde ein Bestseller, und andere Kritiker sahen darin Delanys bis­lang gelun­gen­stes, ambi­tio­nier­te­stes Werk. Ein anony­mer Jugendlicher mit Namen »the Kid« kommt in die von Gewalt beherrschte, nihi­li­sti­sche Stadt oder Zone Bellona, wo es keine Ordnung mehr gibt und wo zwei Monde am Himmel stehen, wenn­gleich in der USA dieser nahen Zukunft sonst offen­bar alles normal ist. Er wird zum Künstler, hat Sex und schlägt sich, und bevor er die Stadt ver­lässt, schreibt er ein Buch, bei dem es sich viel­leicht um Dhalgren han­delt. Der erste Satz voll­endet den letz­ten Satz, und damit schließt sich ein geheim­nis­vol­ler Kreis. Dhalgren ist ein bewusst moder­ni­sti­sches Buch, das in erster Linie von den Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer Jugendkultur han­delt und teil­weise davon, ein Schriftsteller zu sein. Die Struktur von Triton folgt tra­di­tio­nel­le­ren Mustern, aber in man­cher Hinsicht ist der Roman aus­ge­feil­ter. Er prä­sen­tiert eine Folge von Zukunftsgesellschaften, die sich vor allem in Bezug auf ihre Sexualität unter­schei­den; der männ­li­che Protagonist, der anfangs einen ziem­lich unsen­si­blen, tra­di­tio­nel­len Machismo zur Schau stellt, ent­schei­det sich am Ende, eine Frau zu werden (siehe Transgender-SF), bleibt aber unzu­gäng­lich. Triton (ein Mond des Neptun) ist eine »zwie­späl­tige Heterotopie« mit einer ver­blüf­fen­den Vielfalt mög­li­cher Lebensformen. Das Buch wirft inter­es­sante Fragen auf, über Sexualität sowie über Freiheit im Allgemeinen und über die Freiheit, Entscheidungen zu tref­fen. Eine Bühnenfassung von Dhalgren mit dem Titel Bellona, Destroyer of Cities des Romans ist eher eine Fortsetzung des Buches denn eine direkte Adaption der Handlung.

Seither hat Delany zwei in sich abge­schlos­sene Werke ver­öf­fent­licht, die für die Science Fiction von Interesse sind. Stars in My Pocket Like Grains of Sand (1984 <In meinen Taschen die Sterne wie Staub [Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe, 1985], dt. von Annette von Charpentier>) ist der erste Band eines pro­jek­tier­ten Diptychons, ein exo­ti­scher Roman, der in einer galak­ti­schen Zivilisation spielt. Auch hier wirft eine kom­plexe Handlung Fragen nach dem will­kür­li­chen, eng­stir­ni­gen Wesen unse­rer ethi­schen Erwartungen auf. Delany ver­wen­det Formen bewusst erfah­re­ner Demütigung, um die Argumentation auf die Spitze zu trei­ben. Wahrscheinlich ist es Delanys bedeu­tend­stes Werk der 1980er Jahre. Die Fortsetzung, die unter dem Titel »The Splendour and Misery of Bodies, of Cities« ange­kün­digt war, wurde nie geschrie­ben. Through the Valley of the Nest of Spiders (2012; über­ar­bei­tet 2019) ist eine außer­or­dent­lich ambi­tio­nierte Überschreitung und Rekapitulation seiner Werke der vor­her­ge­hen­den Jahrzehnte in Form der Lebensgeschichte einer Gruppe schwu­ler Männer wäh­rend der ersten drei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts und dar­über hinaus.

Im selben Zeitraum ver­öf­fent­lichte Delany die Neveryon-Serie, die sich als Fantasy aus­gibt, kon­kre­ter als Sword & Sorcery: Tales of Nevèrÿon (1979; über­ar­bei­tet 1988 <Geschichten aus Nimmerya [Berlin: Golkonda, 2012], dt. von Annette von Charpentier>); Neveryóna: Or, The Tale of Signs and Cities: Some Informal Remarks Toward the Modular Calculus, Part Four (1983; über­ar­bei­tet 1989 <Nimmeryana [Berlin: Golkonda, 2013], dt. von Annette von Charpentier>); Flight from Nevèrÿon (1985 <Flucht aus Nimmerya [Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe, 1985], dt. von Michael Nagula [Neuausgabe bei Carcosa in Vorbereitung]>; über­ar­bei­tet 1989) und The Bridge of Lost Desire (1987; über­ar­bei­tet 1989 unter dem Titel Return to Nevèrÿon <Rückkehr nach Nimmerya, dt. von Jasper Nicolaisen [bei Carcosa in Vorbereitung]>). Hinsichtlich der Strategie, mit der die Entstehung von Kultur beschrie­ben wird, ähneln die Nevèrÿon-Bücher Stars in my Pocket; dabei erfül­len sie die Erwartungen der Leser:innen und unter­lau­fen sie gleich­zei­tig. In dem Sinne, dass sie fremd­ar­tige Gesellschaften erfin­den, sind sie Science Fiction, auch wenn sie im Prinzip Fantasy sind, da sie in einer fernen, phan­ta­sti­schen, vor­in­du­stri­el­len Vergangenheit spie­len und bis zu einem gewis­sen Grad als Kritik an dem von mus­kel­be­pack­ten Barbaren gepräg­ten Genre fun­gie­ren wie auch als dessen Neuschöpfung. Delanys Vorstellungen von Bondage bei­spiels­weise sind unend­lich anspruchs­vol­ler und schwer fass­ba­rer als, sagen wir, die von John Norman in den Gor-Büchern. Eine Vielzahl von Ideen werden aus­ge­lo­tet, vom Erotischen bis zum Ökonomischen, wobei das Konzept der Sklaverei in beidem eine Rolle spielt, und das Sklavenhalsband wird zum her­vor­ste­chen­den ero­tisch auf­ge­la­de­nen Symbol; die spä­te­ren Bände bezie­hen sich deut­lich auf die Aids-Epidemie. So anspie­lungs­reich, ambi­tio­niert, selbst­re­fle­xiv und ernst­ge­meint diese Bücher auch sind, kehren sie in sti­li­sti­scher Hinsicht jedoch nicht zu etwas zurück, das an den geist­rei­che­ren, zurück­hal­ten­de­ren, ver­spiel­te­ren Delany der 1960er erin­nert; jeden­falls zählen sie zu den zugäng­li­che­ren Werken der letz­ten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.

Während er (etwa seit 1969) selbst sechs Jahre lang keine fik­tio­na­len Werke ver­fasste, wandte Delany seine Aufmerksamkeit den Werken ande­rer zu und unter­rich­tete gleich­zei­tig an den ver­schie­de­nen Universitäten, die weiter oben genannt wurden. Ein Großteil der kri­ti­schen Schriften aus dieser Zeit liegt gesam­melt vor, dar­un­ter The Jewel-Hinged Jaw: Notes on the Language of Science Fiction (1977), The American Shore: Meditations on a Tale of Science Fiction by Thomas M. Disch – Angouleme (1978), Starboard Wine: More Notes on the Language of Science Fiction (1984) und The Straits of Messina (1989; über­ar­bei­tet 2012). 1985 wurde er für seine lite­ra­tur­kri­ti­schen Arbeiten mit einem Pilgrim Award aus­ge­zeich­net. Diese Texte sind oft post­struk­tu­ra­li­stisch und bis zu einem gewis­sen Grad post­mo­der­ni­stisch aus­ge­rich­tet. Dabei bezie­hen sie den zeit­ge­nös­si­schen lite­ra­ri­schen Kontext in einem Maße ein, der weit über die Science Fiction hin­aus­geht. Sie mögen wort­reich sein, sind aber bedeut­sam in ihrem beharr­li­chen Versuch, die Science Fiction an ihren eige­nen Ansprüchen zu messen. Wie Delany in seiner Dankesrede bei der Verleihung des Pilgrim Awards sagte: »Wir müssen lernen, Science Fiction als Science Fiction zu lesen.« Das zweite der genann­ten vier Bücher, eine Analyse von Struktur und Metaphorik der Kurzgeschichte »Angouleme« (New Worlds Quarterly [1970]; hrsg. von Michael Moorcock) von Thomas M. Disch, ist mit spek­ta­ku­lä­rer mikro­sko­pi­scher Penibilität ver­fasst. In The Straits of Messina sind vor allem Texte ver­sam­melt, die Delany ursprüng­lich als K Leslie Steiner ver­öf­fent­lichte, ein Pseudonym, das er ver­wen­det, wenn er über seine eige­nen Werke schreibt. Ein fünf­tes lite­ra­tur­kri­ti­sches Buch, Wagner/Artaud: A Play of 19th and 20th Century Critical Fictions (1988) hat keinen direk­ten Bezug zur Science Fiction; ein sech­stes Buch, Silent Interviews: On Language, Race, Sex, Science Fiction, and Some Comics (1994) ent­hält Material, das von Genreinteresse ist, ebenso wie Longer Views (1996), Shorter Views: Queer Thoughts & the Politics of the Paraliterary (1999) und About Writing: Seven Essays, Four Letters & Five Interviews (2005). The Atheist in the Attic: Plus »Racism and Science Fiction« and »Discourse in an Older Sense«: Outspoken Interview (2018), ent­hält fik­tio­nale wie nicht­fik­tio­nale Texte, dar­un­ter Delanys aus­ge­reifte Gedanken zu Race in der SF.

Marilyn Hacker und Samuel R. Delany haben zusam­men eine kurze Folge von Originalanthologien mit dem Titel QUARK/ her­aus­ge­ge­ben, wobei sie den Begriff »spe­cu­la­tive fic­tion« dem der Science Fiction vor­zo­gen und beson­de­ren Wert auf expe­ri­men­tel­les Schreiben legten. Der Schrägstrich und die Großschreibung sind ein wesent­li­cher Bestandteil des Titels.

Im Nachhinein lässt sich die Hypothese auf­stel­len, dass Delany in seiner Laufbahn immer wieder ein unter­schied­li­ches Publikum ange­spro­chen hat: bis ein­schließ­lich Dhalgren, von dem sich allein in den USA über eine Million Exemplare ver­kauf­ten, ein breite, tra­di­tio­nelle SF-Leserschaft; und danach eine ein­ge­schränk­tere, viel­leicht intel­lek­tu­el­lere, mehr uni­ver­si­täre Leserschaft. Es besteht kein Zweifel daran, dass seine Romane und Erzählungen (und seine lite­ra­tur­kri­ti­schen Arbeiten) in den 1980ern weni­ger zugäng­lich wurden, und die eigent­li­che Frage hin­sicht­lich seiner Laufbahn muss lauten, ob es ein Gewinn oder Verlust war, als er sich Ende der 1970er einen kom­pri­mier­te­ren Stil zu eigen machte. Von da an fanden sich in seinen erzäh­le­ri­schen Texten mehr Passagen, die pole­misch inten­diert waren, deren Stichhaltigkeit, vor allem in der kon­kre­ten wie sym­bo­li­schen Darstellung von Unterwürfigkeit, aller­dings nicht alle Leser:innen über­zeugte. Obwohl die Bewunderer von Delanys frü­he­ren Werken hin­sicht­lich ihres Urteils über seine spä­te­ren Werke stark pola­ri­siert sind, ist er kei­nes­wegs aus der Wahrnehmung der Öffentlichkeit ver­schwun­den. Die beiden ersten Bände der Nevèrÿon-Serie haben sich jeweils rund eine Viertelmillion Mal ver­kauft. Dass der Absatz spä­te­rer Ausgaben zurück­ging, mag durch­aus an den Widerständen liegen, welche Verlage wie Buchhandel diesen zuneh­mend und expli­zit kon­tro­ver­sen Texten ent­ge­gen­brach­ten.

Delany wurde 2002 in die Science Fiction Hall of Fame auf­ge­nom­men; 2009 erhielt er für sein Lebenswerk einen Eaton Award, 2014 den Damon Knight Grand Master Award (siehe SFWA Grand Master Award); und 2022 einen World Fantasy Award eben­falls für sein Lebenswerk. Seine Erzählung »The Hermit of Houston« (F&SF [September/Oktober 2017) gewann in der Kategorie »län­gere Erzählung« einen Locus Award.

Pete Nicholls


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Mit freund­li­cher Genehmigung von
John Clute & David Langford
© der Übersetzung 2023 by Hannes Riffel
Redaktion: Jakob Schmidt