Vorwort zu Grüne Erde 1

von Kim Stanley Robinson

Stellen Sie sich einen Science-Fiction-Roman vor, der vor zwan­zig Jahren geschrie­ben wurde und damals zwan­zig Jahre in der Zukunft ange­sie­delt war. Dann ist das doch ein Roman über die heu­tige Zeit, oder?

Nein. So funk­tio­niert Science Fiction nicht. Science Fiction sagt nicht die Zukunft voraus, son­dern erfin­det Szenarien, die aus der Gegenwart abge­lei­tet sind; außer­dem erschafft sie Metaphern dafür, wie wir uns in dieser Gegenwart fühlen. In diesen Metaphern kommen oft Entwicklungsmöglichkeiten zum Ausdruck – Percy Bysshe Shelley hat das einmal den »Schatten der Zukunft« genannt. Wenn man bedenkt, wie sehr sich alle histo­ri­schen Prozesse seit Beginn der Neuzeit und erst recht seit der Mitte des zwan­zig­sten Jahrhunderts beschleu­nigt haben (Sozialwissenschaftler spre­chen mit Blick auf die letz­ten acht­zig Jahre von der »Großen Beschleunigung«), soll­ten eigent­lich alle Roman, die in der »Gegenwart« spie­len und wirk­lich die Atmosphäre der heu­ti­gen Zeit ein­fan­gen wollen, auch etwas von dieser Beschleunigung ver­mit­teln. Ihre Geschichten soll­ten stets ein wenig über das Jetzt hin­aus­rei­chen, denn sie ver­su­chen ein Ziel zu tref­fen, das sich sehr schnell bewegt.

Deshalb sage ich oft, dass Science Fiction die rea­li­sti­sche Literatur unse­rer Zeit ist. Ich sage das schon seit dem Anfang dieses Jahrhunderts, also unge­fähr seit der Zeit, als ich mit der Arbeit an Grüne Erde begon­nen habe.

Dieser Roman ist also nach wie vor ein Science-Fiction-Roman über die nahe Zukunft. Zugleich ist er aber auch zu einem histo­ri­schen Roman gewor­den, weil er zeigt, wie die Menschen in den Jahren 2002 bis 2006 über ihre Zeit gedacht haben. Und da wir es hier mit rela­tiv kurzen Zeiträumen zu tun haben, kann man ihn ebenso gut als ganz nor­ma­len rea­li­sti­schen Roman über die frühen 2000er Jahre betrach­ten, zu einem Thema, das Anthony Trollope einmal als Titel für einen seiner besten Romane ver­wen­det hat: The Way We Live Now. Wie wir heute leben.

Bei der Gelegenheit sollte ich erwäh­nen, dass es gar nicht so viele Romane über die Stadt Washington gibt. Dies ist einer der besten, möchte ich behaup­ten – schon weil mir kaum ein ande­rer ein­fällt. Seltsam, aber wahr: Washington ist nicht nur im phy­si­ka­li­schen und poli­ti­schen Sinn ein Sumpf, son­dern auch im nar­ra­ti­ven. Es erstickt und ertränkt jede Geschichte. Ein Ungeheuer. Kein Wunder, dass Romanautoren die Stadt meiden.

Grüne Erde ver­eint also meh­rere Genres in sich (es ist unter ande­rem auch ein Spionageroman, ein Liebesroman, ein poli­ti­scher Roman und ein »Thriller in Zeitlupe«, wie einmal jemand aus­ge­drückt hat, obwohl es dieses Genre gar nicht gibt), die alle ihre eige­nen Konventionen und ihre eigene Perspektive mit­brin­gen. Beim Lesen über­la­gert sich das alles und bildet eine Mischung, die auch heute noch inter­es­sant ist. Das hoffe ich jeden­falls, denn eine andere denk­bare Reaktion wäre: »Also, das hier hat der Autor aber völlig falsch ein­ge­schätzt, und das da auch, und diese und jene Entwicklung hat er über­haupt nicht vor­her­ge­se­hen« – und so weiter. Alles völlig rich­tig, und alte Science-Fiction-Geschichten betrach­ten wir stän­dig auch unter diesem Blickwinkel, aber Punkte für die Genauigkeit von Vorhersagen zu ver­ge­ben, ist wohl die unin­ter­es­san­te­ste Herangehensweise an einen Science-Fiction-Roman. Wenn man einen Roman einem bestimm­ten Genre zuord­net, nimmt man ihn als Teil eines grö­ße­ren Diskurses wahr, als Variation eines über­ge­ord­ne­ten Musters, und das erhöht das Lesevergnügen. Natürlich macht es beim Lesen älte­rer Science Fiction auch Spaß, die Zeit ihrer Entstehung mit der Zeit zu ver­glei­chen, in der man sie liest, und manch­mal gewinnt man gerade dadurch neue Einsichten in histo­ri­sche Abläufe, eine wert­volle Erfahrung. Aber bei allen Roman geht es im Kern um den Text selbst, und die eigent­li­che Freude beim Lesen ergibt sich aus den Figuren und der Handlung, mit ande­ren Worten, aus der Geschichte. Wir alle sind süch­tig nach Geschichten, und viele der besten finden sich in Romanen.

Thema dieses Buchs war und ist ein zen­tra­les Problem unse­rer Gegenwart: die Gefahr eines abrup­ten Klimawechsels und die Möglichkeit, dass die Menschheit unab­sicht­lich das sech­ste große Massenaussterben der Erdgeschichte aus­löst, eine Bedrohung für alle Lebewesen und für unsere Zivilisation. In der Zeit seit dem Erscheinen des Romans ist diese Gefahr den mei­sten von uns bewusst gewor­den, und wir haben begon­nen, etwas dage­gen zu unter­neh­men, aber wir kommen zu lang­sam voran, wes­halb immer öfter auch direkte Eingriffe – manch­mal Geo-Engineering genannt – dis­ku­tiert werden.

Als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann, war der Ausdruck »abrup­ter Klimawechsel« noch ganz neu. Er ist ent­stan­den, als bei der Untersuchung von grön­län­di­schen Eisbohrkernen ent­deckt wurde, dass sich Grönland und die gesamte Nordhalbkugel zu Beginn der Jüngeren Dryaszeit vor unge­fähr 12.000 Jahren inner­halb von nur drei Jahren dra­stisch abge­kühlt haben. Nach geo­lo­gi­schem Maßstab ist das nur ein Augenblick, daher das neue Adjektiv »abrupt«. Eine solche Entdeckung ver­langte natür­lich nach einer Erklärung, und die war bald gefun­den: Als die letzte Eiszeit zu Ende ging und die gewal­tige Gletscherdecke in der Arktis schrumpfte, ergos­sen sich die rie­si­gen Mengen an Schmelzwasser in plötz­li­chen Flutwellen ins Meer. Eine dieser Flutwellen unter­brach den Golfstrom (der inzwi­schen als Atlantische Umwälzzirkulation – Atlantic Meridional Overturning Circulation oder AMOC – bezeich­net wird), eine Meeresströmung, die rie­sige Mengen an Wärme aus den Tropen in den Nordatlantik trans­por­tiert. Ein Stillstand dieser Strömung führte folg­lich zu einem plötz­li­chen Kälteeinbruch zu Beginn der Jüngeren Dryaszeit.

Andere Untersuchungen bele­gen, dass auf­grund der vom Menschen ver­ur­sach­ten Erderwärmung – die durch unse­ren hohen CO2-Ausstoß ver­ur­sacht wird und deut­lich schnel­ler ver­läuft als frü­here, rein geo­lo­gi­sche Veränderungen – so große Teile des grön­län­di­schen Eisschilds und des ark­ti­schen Packeises schmel­zen könn­ten, dass der Golfstrom erneut zum Stillstand kommt und sich das Klima in den nörd­li­chen Breiten rapide abkühlt.

Für dieses Szenario habe ich mich beim Schreiben von Grüne Erde ent­schie­den. Zum einen, weil es sich in einem Zeitrahmen abspie­len würde, der sich für einen Roman eignet: Es müss­ten kein Jahrtausend ver­ge­hen, son­dern nur ein Jahrzehnt. Außerdem wollte ich mich mit der Frage befas­sen, wie die Regierung der Vereinigten Staaten auf eine solche glo­bale Veränderung der Lebensbedingungen reagie­ren könnte. Es sollte also um eine beson­dere Variante der Probleme gehen, mit denen wir auf­grund des Klimawandels kon­fron­tiert sind. Könnten wir in einer sol­chen Lage über­haupt etwas unter­neh­men, und wenn ja, würden wir es tun?

Die Frage, wer den not­wen­di­gen poli­ti­schen Willen und die Handlungsbereitschaft auf­brin­gen würde, ergab sich daraus ganz von selbst. Das wie­derum führte gera­de­wegs ins Labyrinth der US-amerikanischen Bundesbehörden sowie zu Fragen der demo­kra­ti­schen Resilienz, also zu Themen wie Wahlbetrug und dem soge­nann­ten »Deep State«, ver­deck­ten Machtstrukturen mit­samt der Machtkämpfe inner­halb der USA oder auch auf inter­na­tio­na­ler Ebene.

All diese Aspekte spie­len bei unse­rem realen welt­wei­ten Problem eben­falls eine Rolle. Das ist das über­grei­fende Thema dieses Buchs; man könnte also ein­fach sagen: Es han­delt von der Geschichte unse­rer Zeit. Stoff genug für einen langen Roman.

Das Buch ist zwi­schen 2002 und 2006 in Davis in Kalifornien ent­stan­den, wo ich lange gelebt habe. Etwa zehn Jahre zuvor hatten meine Frau und ich vier Jahre in Washington ver­bracht, wo meine Frau bei der Food and Drug Administration gear­bei­tet hat. Davor war sie kurze Zeit bei der Environmental Protection Agency (der Umweltschutzbehörde), danach als Chemikerin im Bereich Wasser und Umwelt beim US Geological Survey. Ich selbst hatte in den 1990er Jahren oft mit der National Science Foundation zu tun, meist im Rahmen des US-amerikanischen Antarktis-Programms.

Vor dem Hintergrund all dieser Erfahrungen hatte ich das Gefühl, dass Washington einen inter­es­san­ten Romanschauplatz abge­ben würde und die Bundesbehörden mir ein ganzes Netzwerk fas­zi­nie­ren­der Protagonisten lie­fern konn­ten. Auch wenn es nicht viele Romane dar­über gab, ich fand den Stoff inter­es­sant und wich­tig. Ganz sicher ließ sich darauf trotz der offen­sicht­li­chen Hürden ein span­nen­der Roman auf­bauen.

All diese Überlegungen haben schließ­lich zu meinem drit­ten und letz­ten »sehr langen Roman« geführt. Mein Mentor Fredric Jameson hat für diese Werke später den Begriff »Megaromane« geprägt, aber meine Bezeichnung gefällt mir besser. Novellen unter­schei­den sich schon auf­grund ihrer Kürze in bestimm­ten wich­ti­gen for­ma­len Aspekten von Romanen; das glei­che gilt für sehr lange Romane.

»Lang« bedeu­tet dabei auch »viel«: In Bezug auf meine Mars-Trilogie hat Jameson einmal von »großen Schichten an Stoff« gespro­chen, und er zitierte gerne Norman Mailer, der wie­derum Thomas Mann zitiert hat, »dass nur das Gründliche wahr­haft unter­hal­tend sei«. Das stimmt zwar nicht, aber natür­lich kann man in einem sehr langen Roman eine große Menge an Informationen ver­mit­teln. Das kann dem Text eine »dichte Textur« ver­lei­hen und einen star­ken »Realitätseffekt« erzeu­gen, sodass der Roman eine wich­tige Rolle in der gei­sti­gen Welt der Lesenden spielt. Oder um als Romanautor zu spre­chen: Ein langer Roman bietet Raum für mehr Figuren, mehr Details bei der Charakterisierung, mehr Geschehnisse und damit auch mehr Handlungsstränge. Das alles kann sich gegen­sei­tig ver­stär­ken und sich zu einer über­ge­ord­ne­ten Handlung ver­bin­den, die über das Schicksal der ein­zel­nen Figuren hin­aus­geht und letzt­lich das Zeitgeschehen als Ganzes abbil­det.

Ich habe drei sehr lange Romane ver­fasst: die Mars-Trilogie, The Years of Rice and Salt und Grüne Erde. Grüne Erde wurde zunächst als Trilogie ver­öf­fent­licht; zehn Jahre später schlug ich meiner bri­ti­schen Lektorin Jane Johnson vor, die drei Teile so weit zu kürzen, dass sie in einem Band erschei­nen konn­ten. Sie war ein­ver­stan­den und sorgte dafür, dass das Projekt umge­setzt wurde, und auf dieser ver­dich­te­ten Version basiert die deut­sche Übersetzung, die Sie jetzt in der Hand halten. Was mich freut, denn mir ist diese Fassung lieber. Durch die Kürzungen (ich habe unge­fähr fünf­zehn Prozent gestri­chen) liest sich der Roman flüs­si­ger. Außerdem habe ich einige Fehler kor­ri­giert. Jane Johnson gehört zu den Lektorinnen und Lektoren, die für meinen beruf­li­chen Werdegang beson­ders wich­tig waren; ich bin ihr dank­bar, dass sie die Neufassung ermög­licht hat. Bei der Gelegenheit konnte ich auch zwei neue Begriffe ein­füh­ren. Beide stehen für Phänomene, die im Roman geschil­dert werden, für die es zum Zeitpunkt des Schreibens aber noch keine Bezeichnung gab: atmo­sphä­ri­scher Fluss und Polarwirbel.

Wenn wir nun all dieser ver­wir­ren­den Überlegungen zum Genre und zur histo­ri­schen Entwicklung einmal bei­seite lassen – was bleibt übrig? Ein Roman – »eine Prosaerzählung von einer gewis­sen Länge, mit der etwas nicht stimmt« (Randall Jarrell).

Letztlich also eine Geschichte, die man zum Vergnügen liest. Figuren und Handlung: Das sind die eigent­lich wich­ti­gen Dinge in einem Roman. Daher freue ich mich, Ihnen Frank und Marta vor­stel­len zu dürfen, Charlie und Anna, Joe und Nick, Drepung und Rudra Cakrin, Diane und Phil – Phil, für den John McCain, John Kerry und Franklin Delano Roosevelt Pate stan­den und der jene US-amerikanischen poli­ti­schen Führungspersönlichkeiten reprä­sen­tiert, die unser Land irgend­wann wieder leiten wird, wenn der der­zei­tige Phantast und Todesanbeter abtre­ten musste. Wenn wir alle wieder der Realität ins Auge blicken und den Kampf um eine lebens­werte Zukunft auf­neh­men.

Und dann noch Zeno und Chessman und Fedpage und die ande­ren Obdachlosen. Diese Menschen habe ich nach realen Vorbildern erschaf­fen, die ich im Verlauf vieler Jahre beim Frisbee-Golf in einem Park in Davis in Kalifornien ken­nen­ge­lernt habe. Es war mir eine Freude, sie nach Washington zu ver­pflan­zen und in Romanfiguren zu ver­wan­deln und so einen Eindruck von ihrem harten Leben zu ver­mit­teln. Wie ich erfah­ren habe, sind alle außer Zeno inzwi­schen gestor­ben. Obdachlosigkeit endet mei­stens töd­lich: In den USA liegt die durch­schnitt­li­che Lebenserwartung bei fünf Jahren, und diese Jahre sind ein ein­zi­ger harter Kampf. Dass es in den Vereinigten Staaten so viele Obdachlose gibt, ist eines der stärk­sten Anzeichen dafür, dass unsere Gesellschaft krank ist. Die Person, der ich Zeno nach­emp­fun­den habe, ist vor Kurzem nach langer Abwesenheit wieder in unse­rem Park auf­ge­taucht. Er hat uns auf die gewohnte Art begrüßt, uns sein neues Glasauge gezeigt, uns erzählt, dass er eine Krebserkrankung über­stan­den hat, und uns den Tod seiner Freunde mit­ge­teilt. Menschen sind zu großer Tapferkeit fähig, wenn es Leid und Not aus­zu­hal­ten gilt, und dieses Durchhaltevermögen, diese Widerstandskraft, diese Solidarität mit den eige­nen Freunden zeigt sich bei Zeno und seinen Gefährten min­de­stens so stark wie bei irgend­ei­ner ande­ren Figur in diesem Roman.

All diese Leute tragen hof­fent­lich dazu bei, dass der Roman in unse­ren schwie­ri­gen Zeiten eine stär­kende Wirkung ent­fal­tet. Denn letzt­lich ist er eine Komödie der Problembewältigung und damit ein Beispiel für eine Optopie, also eine Utopie, die aus unse­rer gegen­wär­ti­gen hoch­ge­fähr­li­chen Situation das beste über­haupt denk­bare Szenario ablei­tet. Können wir eine bes­sere Welt erschaf­fen, können wir das dro­hende Massenaussterben abwen­den? Ja. Das habe ich vor zwan­zig Jahren gesagt, und das sage ich auch heute noch.

Ich möchte Fritz Heidorn, Hannes Riffel, Barbara Slawig und allen ande­ren danken, die an dieser deut­schen Ausgabe mit­ge­wirkt haben, ein­schließ­lich allen Leserinnen und Lesern.

Also: Vade liber – »Geh, klei­nes Buch«, wie Chaucer es einmal aus­drückte, ein Zitat, mit dem auch schon Joanna Russ ihre Utopie in die Welt hin­aus­ge­schickt hat. »Klein« mag etwas merk­wür­dig klin­gen, wenn man bedenkt, dass mich dieses Ungeheuer von einem Buch fünf Jahre meines Lebens geko­stet hat, aber am Ende werden Sie hof­fent­lich ver­ste­hen, was ich damit meine: Letztlich kommt es auf die klei­nen Dinge im Leben an.

Danke.

Stan
August 2025


© 2025 by Kim Stanley Robinson
Mit freund­li­cher Genehmigung des Autors
Deutsch von Barbara Slawig
Buchausgabe: Die vier­zig Sprachen des Regens (2026)
© der dt. Ausgabe 2025 by Carcosa Verlag, Wittenberge
Redaktion: Hannes Riffel