Einleitung zu Grüne Erde 1

von Kim Stanley Robinson

Der 2014 ver­stor­bene Peter Matthiessen war ein groß­ar­ti­ger Schriftsteller. Seine Sachbücher sind wun­der­voll und seine Romane noch besser: Ein Pfeil in den Himmel ist ein echtes Epos, und Far Tortuga ist bril­lant und ergrei­fend, einer meiner Lieblingsromane. Wenn man diese Bücher liest, lebt man mehr als nur ein Mal.

Sein drit­ter großer Roman hat eine unge­wöhn­li­che Veröffentlichungsgeschichte. Er erschien zunächst als Trilogie, die aus den Teilen Killing Mister Watson, Lost Man’s River und Bone by Bone bestand. Ungefähr zehn Jahre später ver­öf­fent­lichte Matthiessen unter dem Titel Shadow Country eine stark gekürzte Fassung in einem ein­zi­gen Band. Als ich dieses Werk in einem Buchladen in die Hand bekam und das Vorwort las, in dem Matthiessen seine Vorgehensweise erklärt, dachte ich augen­blick­lich: »Genau das möchte ich mit meiner Klimatrilogie auch machen.«

Diese Reaktion über­raschte mich selbst. Mir war bis dahin gar nicht bewusst gewe­sen, dass ich die Romane gern über­ar­bei­tet hätte. Normalerweise schaue ich nur selten zurück, wenn ich einen Roman been­det habe, son­dern wende mich etwas Neuem zu. Die Arbeit an einem Buch abzu­schlie­ßen, ist befrie­di­gend, schließ­lich hat man eine Aufgabe zu Ende gebracht, aber es hat auch etwas Trauriges: Die Figuren hören dann auf, mit mir zu reden. So ähn­lich muss sich Calvin fühlen, wenn Hobbes sich in ein Stofftier zurück­ver­wan­delt. Eigentlich tra­gisch, nur dass ich eine ein­fa­che Lösung weiß, näm­lich einen neuen Roman anzu­fan­gen. Und damit geht das Leben weiter.

Im Fall meiner Klimatrilogie – zwi­schen 2004 und 2007 unter den Titeln Forty Signs of Rain, Fifty Degrees Below und Sixty Days and Counting erschie­nen – hatte ich jedoch offen­bar den Wunsch, weiter am Text her­um­zu­basteln. Nach eini­gem Nachdenken ver­stand ich auch wieso. Seit ich mit der Arbeit an dem Projekt begon­nen hatte, waren fast fünf­zehn Jahre ver­gan­gen; in dieser Zeit war der Klimawandel viel stär­ker ins Bewusstsein der Menschen gerückt. Inzwischen galt er als das große Problem unse­rer Zeit. Vor diesem Hintergrund betrach­tet, hatte ich das Gefühl, dass ich in der Trilogie sei­ten­weise Dinge erklärte, die die Leserinnen und Leser längst wuss­ten. Einiges davon konnte man sicher strei­chen. Die eigent­li­che Geschichte würde dadurch klarer her­vor­tre­ten.

Hinzu kam, dass ich beim Schreiben ursprüng­lich die Idee im Kopf hatte, eine rea­li­sti­sche Geschichte mit den Mitteln der Science Fiction zu erzäh­len. Ich fand das damals witzig, aber auch pas­send, schließ­lich ist unser heu­ti­ges Leben ein ein­zi­ger großer Science-Fiction-Roman, den wir alle gemein­sam ver­fas­sen. Wer über die Welt von heute schrei­ben will, sollte das immer in Form von Science Fiction tun, sonst bekommt der Roman unver­se­hens etwas Nostalgisches, es fehlt der Geschichte an Tiefe, sie geht an der Sache vorbei und wirkt ver­wor­ren.

Die Idee an sich gefiel mir also – sie gefällt mir immer noch -, trug mir aber ein Problem ein, das mir beim Schreiben wohl nicht klar genug war. In der Science Fiction erschafft man bekannt­lich fik­tive Welten, indem man viele kleine Details ein­flie­ßen lässt, die den Leserinnen und Lesern helfen, sich Dinge vor­zu­stel­len, die es noch nicht gibt. Kuppelstädte unter dem euro­päi­schen Eisschild zum Beispiel. Romane, die in der Gegenwart spie­len, haben das nicht nötig. Wenn ich die National Mall in Washington erwähne, haben Sie dazu bereits Bilder im Kopf. Ich muss nicht extra beschrei­ben, wie flach das Wasser im Reflecting Pool oder wie hoch das Washington Monument ist, oder die Steinbrüche benen­nen, aus denen das Material für den Obelisk stammt. Aber genau an sol­chen Details habe ich, ehr­lich gesagt, meine Freude. Es hat mir Spaß gemacht, Washington so zu beschrei­ben, als befände die Stadt sich auf einer Umlaufbahn um Aldebaran. Im Nachhinein fand ich jedoch, dass ich es hier und da viel­leicht etwas über­trie­ben hatte. Ein Roman ist wie ein Schiff, er hat seine eigene Freibordmarke, und wenn man ihn zu sehr belädt, kann er bei Sturm ken­tern. Die Lesenden gehen dann viel­leicht lieber schon vorher von Bord oder stei­gen erst gar nicht ein.

Mit sol­chen Gedanken im Hinterkopf bin ich den Text durch­ge­gan­gen und habe über­flüs­sige Details gestri­chen, außer­dem einige Passagen, die mir unnö­tig wort­reich erschie­nen (auch die gab es). Matthiessen hat den mitt­le­ren Band seiner Trilogie einmal mit dem Hängebauch eines Dackels ver­gli­chen. Seine gekürzte Fassung hatte statt 1500 nur noch 900 Seiten; von ihm inspi­riert habe ich meine rund 1100 Seiten auf etwa 800 gekürzt. Wichtiges ist dabei nicht ver­lo­ren­ge­gan­gen, und meinem Eindruck nach hat die neue Version auch einen bes­se­ren Erzählfluss. Vor allem aber: Der Text passt jetzt in einen Band. So erkennt man sofort, dass die drei Teile eigent­lich einen ein­zi­gen Roman bilden.

Diejenigen, die gern die län­gere Version der Geschichte lesen möch­ten, können nach wie vor auf die drei ursprüng­li­chen Romane zurück­grei­fen. Die Trilogie wurde gele­gent­lich unter dem Titel The Capital Code gehan­delt, meist jedoch unter Science in the Capital, was mir besser gefällt. Beide Bezeichnungen sollen der Originalversion vor­be­hal­ten blei­ben. Die kür­zere Fassung heißt zu meiner Freude nun Green Earth, die deut­sche Übersetzung Grüne Erde. So lau­tete schon eine Kapitelüberschrift in meinem Roman Blauer Mars, und ich hatte immer vor, einmal auch einen Roman so zu nennen; das beschreibt gut, was wir in den kom­men­den Jahrhunderten errei­chen können, wenn es uns gelingt, eine nach­hal­tig wirt­schaf­tende Zivilisation auf­zu­bauen. Noch haben wir das nicht geschafft; es wird Zeit, dass wir damit anfan­gen. Dieser Roman beschreibt eine Möglichkeit, wie ein sol­cher Anfang aus­se­hen könnte.

Diese Geschichte han­delt von vielen ver­schie­de­nen Dingen: Klimawandel, wis­sen­schaft­li­che Organisationen und Wissenschaftspolitik, Buddhismus, Biotechnologie und Investitionskapital, Obdachlosigkeit, Soziobiologie, Überwachungsmethoden, das Leben in Washington, das Leben in einem Baumhaus, das Zusammenleben mit einem eigen­sin­ni­gen Kleinkind. Eine Küchenspüle hat eben­falls einen Auftritt. Bei so viel Material sollte es nie­man­den über­ra­schen, wenn in der Geschichte einige Dinge „vor­her­ge­sagt‟ wurden, die später tat­säch­lich ein­ge­tre­ten sind. Das ist eine Eigenschaft aller Science Fiction, die von der nahen Zukunft han­delt.

Trotzdem, manche dieser Pseudovorhersagen haben mich beim Durcharbeiten des Textes durch­aus ver­blüfft. Dass der Sturm, der die Ostküste ver­wü­stet, Sandy heißt, könnte aus J. W. Dunnes Buch über hell­se­he­ri­sche Träume An Experiment With Time stam­men – mit ande­ren Worten, es ist ein­fach ein bemer­kens­wer­ter Zufall.

Andere Treffer, ins­be­son­dere im Bereich Wetter und Klima, kamen weni­ger zufäl­lig zustande. Mit der Erderwärmung steigt die Menge an Energie, die in der Atmosphäre gespei­chert ist, und extreme Wetterlagen treten häu­fi­ger auf. Und da Washington nun einmal tief liegt, steht bei schwe­rem Sturm regel­mä­ßig die Metro unter Wasser, wor­auf­hin ich schon zwei oder drei Mal über­raschte E‑Mails und sogar Glückwünsche erhal­ten habe. Vor Kurzem hat das Ingenieurskorps der Armee in aller Stille damit begon­nen, quer über der National Mall eine Geländestufe zu errich­ten, damit zukünf­tige (unver­meid­li­che) Überflutungen weni­ger Schaden anrich­ten, aber Hurrikan Katrina und das Hochwasser in New Orleans haben nur ein Jahr nach Erscheinen des Romans bewie­sen, dass auch Ingenieurskunst nicht immer aus­reicht.

Einige der Sundarban-Inseln sind inzwi­schen unwi­der­ruf­lich im Meer ver­sun­ken, so wie es mit Khembalung in Fifty Degrees Below geschieht. Und übri­gens, was die minus fünf­zig Grad Fahrenheit (-45º Celsius) des Originaltitels angeht: Aufgrund von Verlagerungen des Jetstreams werden ark­ti­sche Winter immer öfter auch weiter im Süden der nord­ame­ri­ka­ni­schen Ostküste auf­tre­ten. Gerade erst hatten wir zwei solche Winter in Folge; wäh­rend ich dieses Vorwort schreibe, ist es im Norden Virginias kälter als im Norden Alaskas, mit Temperaturen bis zu minus zehn Grad (-22º C). Da erscheint selbst minus fünf­zig Grad nicht mehr sehr über­trie­ben, auch wenn ich zuge­ben muss, dass die extrem tiefen Temperaturen im Roman der Zahlenfolge in den eng­li­schen Romantiteln geschul­det waren. Aber warten wir ab. Atmosphärische Flüsse und Polarwirbel werden wir auf jeden Fall erle­ben; als ich den Roman schrieb, waren beide Begriffe noch kaum bekannt, aber die Phänomene, die ich in der Geschichte schil­dere, gab es bereits.

Noch beun­ru­hi­gen­der ist, wie sehr die Spionagegeschichte durch die kürz­lich auf­ge­deck­ten Überwachungsprogramme der National Security Agency bestä­tigt und sogar über­bo­ten wurde. Erste Anzeichen dafür gab es bereits, als ich das Buch geschrie­ben habe, aber ich dachte, ich würde sati­risch über­trei­ben. Keineswegs. Man inter­es­siert sich für Sie. Ihre Telefonate werden auf­ge­zeich­net, und Computerprogramme stufen ein, welche Gefahr für das System von Ihnen aus­geht. Und Wahlen? Drücken Sie uns die Daumen!

Aus all diesen ver­schie­de­nen Gründen wird das Buch wohl noch eine Weile hell­se­he­risch wirken. Es ist zu einer selt­sa­men Mischung aus histo­ri­schem Roman, Gegenwartsroman und Science Fiction gewor­den: Manche Dinge sind schon pas­siert, andere gesche­hen gerade, und wieder andere werden sich dem­nächst ereig­nen. Einige Dinge wie­derum – die Wild Cards in dem Gemisch – werden nie ein­tre­ten, denn es ist und bleibt eine fik­tive Geschichte. Aber fik­tive Geschichten müssen sich nicht bewahr­hei­ten, um ihren Zweck zu erfül­len.

All diese Pseudovorhersagen im Roman gehen letzt­lich auf meine Beschäftigung mit der Wissenschaft zurück. Sie kann uns Dinge lehren, die für uns als Einzelwesen unsicht­bar sind, und auch Romane können von einer sol­chen Unterstützung durch künst­li­che Intelligenz nur pro­fi­tie­ren. Ja, mit der Wissenschaft besit­zen wir bereits jene geniale KI, vor deren Erschaffung wir uns fürch­ten; sie ist längst aktiv. Hören Sie ihr zu und han­deln Sie ent­spre­chend.

Die Danksagung am Ende des Buchs verrät (für alle drei Bände zusam­men­ge­fasst), wie viele Menschen mir gehol­fen haben. Hier möchte ich vor allem beto­nen, wie viel ich der National Science Foundation ver­danke. 1995 war ich im Rahmen ihres Antarctic Writers and Artists Program in der Antarktis, und dieses Erlebnis bil­dete der Ausgangspunkt für alles, was in diesem Roman erzählt wird. Danach war ich mehr­fach im Verwaltungssitz der Stiftung zu Gast, erst um als Jurymitglied an der Auswahl der Künstler für nach­fol­gende Antarktisaufenthalte mit­zu­wir­ken, später dann für Vorträge und Konferenzen. Mehrere Wissenschaftler der NSF haben mir sehr inter­es­sant von ihrer Arbeit berich­tet, und von der ersten weib­li­chen Leiterin der Stiftung, Rita Colwell, habe ich man­ches erfah­ren, das mir beim Schreiben von Diane Changs Geschichte gehol­fen hat.

Nachdem der erste Band der ursprüng­li­chen Romanfassung erschie­nen war, besuchte ich eines Tages wieder einmal das NSF-Gebäude in Arlington, um bei einem der infor­mel­len Mittagstreffen einen Vortrag zu halten. Neben den Fahrstühlen hatte Guy Guthridge, mein Ansprechpartner für den Antarktis-Aufenthalt, Flyer mit der Überschrift NSF RETTET DIE WELT! auf­ge­hängt, und der Vortragssaal war voll. Als Erstes las ich die Szene, in der meine Figuren zu einem Mittagstreffen im NSF-Gebäude zusam­men­kom­men, ihre Lunchpakete öffnen und sich beim Essen einen Vortrag anhö­ren – all den langen Berufsjahren und den vielen Förderanträgen zum Trotz, rein aus Neugier, diesem Impuls, auf dem alle wis­sen­schaft­li­che Forschung beruht. Während ich die Passage vor­trug, hob ich den Kopf, und da saßen sie. Ein Kreis hatte sich geschlos­sen. Mir wurde fast schwin­de­lig. An diesem Tag haben wir viel gelacht, und auch wenn ich weiß, dass die mei­sten Leute dort den Gedanken, die NSF könnte die Welt retten, nach wie vor lächer­lich finden, eins stimmt auf jeden Fall: Sie haben einen star­ken Gemeinschaftssinn, sie haben mehr Einfluss, als man ihnen zutrauen würde, und sie lei­sten gute Arbeit. Ich denke voll Bewunderung und Dankbarkeit an sie; für mich sind sie ein unver­zicht­ba­rer Teil eines jeden Staates, in dem das Volk allein durch das Volk zum besten des Volkes herrscht. Wissenschaftler wären durch­aus in der Lage, eine grö­ßere Rolle bei der Rettung der Welt zu spie­len; viel­leicht fühlen sich einige von ihnen ja dazu ermun­tert, wenn sie eine Geschichte lesen, in der es tat­säch­lich geschieht. Oder es bringt sie wenig­stens zum Lachen. Ein füh­ren­der Mitarbeiter der NSF soll angeb­lich sein Haus ver­kauft haben und in einen Wohnwagen gezo­gen sein, kaum dass er die Trilogie gele­sen hatte. Ganz so weit muss man wohl nicht gehen, aber den Impuls, der dahin­ter­steckt, finde ich gut. Schließlich lesen wir Roman, um ein Gefühl für den Sinn der Welt zu ent­wickeln, um im Geist das Leben ande­rer Menschen nach­zu­voll­zie­hen und auch, um zu lachen. Also lesen Sie weiter – ob Sie nun anschlie­ßend in die Wildnis auf­bre­chen oder nicht — und lassen Sie sich von der Geschichte ermu­ti­gen und unter­hal­ten. Ich danke Ihnen.


© 2025 by Kim Stanley Robinson
Mit freund­li­cher Genehmigung des Autors
Deutsch von Barbara Slawig
Buchausgabe: Die vier­zig Sprachen des Regens (2026)
© der dt. Ausgabe 2025 by Carcosa Verlag, Wittenberge
Redaktion: Hannes Riffel